Der Wald vor lauter Bäumen

Deutschland 2003 Spielfilm

Angst vor dem Verschwinden

Karlsruhe kann grausam sein. Oder wenigstens das Stückchen Stadt, das Melanie Pröschle von ihrer neuen Wohnwabe aus sehen kann: das erleuchtete Küchenfenster von gegenüber, der Tränenausbruch der Nachbarin nach einem Telefonat, ihr ungeschminktes Gesicht bei den Mülltonnen, der nervöse Mann später vor ihrer Eingangstür. Melanie Pröschle (Eva Löbau) kommt frisch von der Uni. Sie hat den Kopf leer geräumt für die pädagogische Arbeit im Realen. Auch den langjährigen Freund hat sie irgendwo im Schwabenland zurückgelassen, um sich ohne ablenkende Altlasten auf fremdem Terrain zu bewähren. Doch niemand hat nach Frau Pröschle und ihrem adretten Idealismus verlangt. Nicht die Kollegen, die ihre schüchterne Antrittsrede über "frischen Wind" und "viele neue Projekte" mit Spott quittieren. Nicht die Schüler, die der blassen Frau mit dem erschrockenen Blick bald den Krieg erklären. Und auch nicht die Nachbarin, die Melanies ungeschickten Kontaktversuchen immer häufiger ausweicht.

In "Der Wald vor lauter Bäumen" ist das Mitleid streng rationiert. Es gibt keine Belohnung für Assimilation und Leidensbereitschaft. Keine Liebe im Tausch gegen selbstvergessene Dienstleistungen und andere Opfergänge. Da bleibt schnell nichts anderes von einem übrig als die Angst vorm Verschwinden, nichts als der buchstäbliche Leerkörper. Maren Ades Debüt ist eine intime, leise und asketische Erzählung vom Horror vacui, morgens um halb zehn in Deutschland.

Quelle: Christian Buß, Birgit Glombitza (Red.): "Deutschland, revisited". (Katalog zur gleichnamigen Retrospektive im Kommunalen Kino Metropolis Mai - Juli 2004). Hamburg: Kinemathek Hamburg e.V., 2004

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