Darsteller, Regie, Regie-Assistenz, Drehbuch, Kamera, Schnitt, Ton, Produzent
Wiesbaden

Ich habe die Mitte der Gesellschaft anvisiert

Der Regisseur Romuald Karmakar über seinen aktuellen Film



Rainer Gansera, epd film, Nr. 2, 03.02.2004

Schon mit 20 Jahren hatte Romuald Karmakar eines seiner Themen gefunden, und es war kein bequemes: In dem auf Super-8 gedrehten Film "Eine Freundschaft in Deutschland"geht es um den jungen Adolf Hitler. Als Regisseur der "dunklen Seite" hat Karmakar sich dann einen Namen gemacht – im dokumentarischen Bereich wie mit seinem ersten großen, mehrfach preisgekrönten Spielfilm "Der Totmacher". Auf der Berlinale wird Karmakar gleich zwei neue Arbeiten vorstellen: die Dramen-Adaption "Die Nacht singt ihre Lieder" (Kritik auf S. 39) und die Dokumentation "Land der Vernichtung".

"Ich bin auf der Suche nach dem Herzen der Finsternis": das ist ein Motto, das Romuald Karmakars Arbeiten von Anfang an begleitet. Seine Filme sind Konfrontationen: hart, direkt. Sie fällen keine Urteile, sondern erkunden Abgründe. In seinen Dokumentarfilmen holt sich der 1965 in Wiesbaden geborene Karmakar Boxer, Söldner, Liebhaber von Pitbull-Terriern und Veranstalter von Hahnenkämpfen vor die Kamera. "Coup de boule" (1987) zeigt martialische Rituale in Männerwelten. "Warheads" (1989-92) ist das Porträt zweier Männer, die das Töten zu ihrem Beruf gemacht haben. Dokumentationen, die das außerordentliche Talent des jungen Filmemachers offenbarten, schon bevor er mit seinem ersten Spielfilm einen Geniestreich landete: "Der Totmacher" (1995), beklemmendes Psychogramm des Serienkillers Fritz Haarmann, dekoriert mit zahlreichen Auszeichnungen, darunter drei Bundesfilmpreisen.

In "Frankfurter Kreuz" (1997) wird ein Kiosk in der Silvesternacht zur Aufwärmbude für Gestrandete. "Manila" (1999) versammelt ein Ensemble bizarrer Urlauber-Figuren in einem Flughafen. "Das Himmler-Projekt" (2000) konfrontiert uns mit der berüchtigten Himmler-Rede, die am 4. Oktober 1943 vor 92 SS-Generälen gehalten wurde. Immer wieder taucht Karmakar in Zonen existenzieller und geschichtlicher Finsternis ein, um uns herauszufordern - wir sollen dem Anblick des Abgründigen nicht ausweichen.

"Die Nacht singt ihre Lieder" ist die Verfilmung eines Theaterstücks und erzählt eine Liebesgeschichte: zwei Dinge, die neu sind in Ihrem Oeuvre.

Stimmt, solch eine "klassische" Liebesgeschichte habe ich noch nie erzählt. In meinen bisherigen Filmen gibt es sozusagen indirekte Liebesgeschichten: Leute, die sich nach Liebe oder wenigstens nach Anerkennung sehnen. Hier geht es um junge Leute, die ein Baby haben und erkennen müssen, dass ihre Liebe am Ende ist, ausweglos am Ende. Mich interessierte dieser Topos, den doch wahrscheinlich jeder in der einen oder anderen Form aus eigener Erfahrung kennt, der aber im Kino kaum vorkommt. Ich habe das Theaterstück in einer Aufführung der Schaubühne gesehen. Mir gefielen diese Dialoge, diese Polarität von Witz und Strenge, von Humor und Härte. Mir gefiel auch, dass es ohne Schrei-Exzesse und ohne Sex-Szenen auskommt. Der Autor des Stücks, der 1959 geborene Norweger Jon Fosse, ist nicht ohne Grund der zur Zeit meistgespielte Gegenwarts-Autor.

Der Beginn des Films: wie die Kamera tastend auf den Vorhang zufährt, wie sie das Gesicht der jungen Frau findet und sich dann zur Wohnungs-Szenerie öffnet, wobei die leitmotivischen Sätze gesprochen werden: "Ich halte das nicht mehr aus. Wir können so nicht weiterleben!" – das ist ein schönes Kino-Äquivalent zum Heben des Vorhangs auf der Bühne.

Das ist richtig: Diese Introduktion ist eine Reminiszenz ans Theater. Mehrmals habe ich so etwas eingefügt. Wenn zum Beispiel die Eltern des jungen Mannes den Hinterhof betreten, dann ist das, schräg von oben gefilmt, wie ein Bühnen-Auftritt. Dazu passend Musik von Henry Purcell aus "King Arthur", die wie ein "Act Tune" aus dem britischen Theater des 17. Jahrhunderts eingesetzt wird. Bei der Verfilmung eines Theaterstückes sollte man nie die Vorlage verleugnen. Das ist eine Maxime, die André Bazin in seinen Essays zu "Theater und Kino" entwickelt hat und der wir folgen. Es gibt Leute, die denken kurzschlüssig so: Ein Theaterstück wird dann "filmisch" verfilmt, wenn man zum Beispiel einen Küchentisch-Dialog in eine Autofahrt verlegt. Ein Trugschluss, denn genau dann wird die Szene falsch theatralisch. Kino wird die Szene, wenn man mit der Kamera die richtige Einstellung zum Raum, zu den Körpern, zur Sprache und zum Spiel der Akteure findet.

Fosse bezeichnet im Stück den Schauplatz nicht näher und spricht in Interviews gern davon, dass seine Figuren "eher Stimmen als Figuren" seien.

"Stimmen" – das ist gut gesagt. Ja, ich musste all dem eine konkrete Gestalt geben. Ich habe die Geschichte in Berlin-Mitte angesiedelt, auch von den Figuren her die "Mitte" der Gesellschaft anvisiert. Die Wohnung der beiden jungen Leute ist hübsch hergerichtet, aber das Wohnhaus ist arg renovierungsbedürftig – darin spiegelt sich auch der Zustand ihrer Beziehung. Wir, Martin Rosefeldt und ich, haben bei der Erarbeitung des Drehbuchs auch einige Änderungen vorgenommen, die ich mal am Beispiel der Eltern erläutere. Im Stück sind die Eltern Leute, die mit dem Bus in die Stadt fahren und versehentlich den Fahrplan falsch lesen, so dass sie dann ihren Besuch recht schnell wieder abbrechen müssen. Bei uns ist der Vater ein – sagen wir mal – Neureicher, der es irgendwie zu Geld und sozialer Anerkennung gebracht hat, der einen Jaguar besitzt und eigentlich nur nach Berlin fährt, weil er da zum Beispiel in ein Musical gehen will, und so besucht er mit seiner Frau mal kurz die Kinder, um einen flüchtigen Blick aufs Enkelkind zu werfen. Solche Veränderungen und Konkretisierungen haben wir vorgenommen, um das Bedrängende der Geschichte näher an uns heranzurücken und fühlbarer zu machen. Wir sind gewohnt, unangenehme Dinge über die soziale Peripherie zu betrachten: im Plattenbau-Milieu von Frankfurt/Oder oder im Arbeitslosen-Milieu von Manchester. Hier nun also Berlin-Mitte, stellvertretend auch für den "Boom-Faktor" Berlin und was daraus, 14 Jahre nach dem Fall der Mauer, geworden ist. Durch alle diese Konkretisierungen hindurch soll es aber doch möglich sein, jene Ebene der Abstraktion und der Verdichtung der Gefühle zu erreichen, die Fosse im Stück angelegt hat.


Haben Sie Fosse das Drehbuch gezeigt?

Ja, und er schrieb daraufhin: "Ich sehe den Film, und ich sehe mein Stück."

Wie legen Sie die Figuren an?

Zum Beispiel den Vater, den Manfred Zapatka - mit dem Sie schon oft zusammengearbeitet haben – spielt? In manchen Theateraufführungen wurde gerade diese Vater-Figur bis ins Groteske überdreht. Komisch ist die Vater-Figur schon, aber sie ins Groteske zu wenden, das ist kindisch, unseriös. Für mich ist es interessanter, Manfred Zapatka mit Baseball-Mütze, Trenchcoat und Jaguar zu zeigen, und nicht etwa so: mit einem Wollschal, der fünfmal um den Hals gewickelt ist, mit Plastiktüte in der Hand und etwas zu kurz geratenen Hosen. Auf dem Theater macht man das ja ganz gern: Um eine Figur lächerlich zu machen, zieht man ihr eine zu kurze Hose an. Der Humor des Films ist nicht von der Art, dass er sich über die Figuren lustig macht. Er ist sozusagen ein ernsthafter Humor.

Bewegend und eindrucksvoll präsentieren sich Anne Ratte-Polle und Frank Giering in den Hauptrollen. Wie kam es zu dieser Besetzung?

Das ist eine lange Geschichte, die damit zu tun hat, dass die Finanzierung des Films so viel Zeit kostete. Um es kurz zu machen: Anne hat dieses unglaublich facettenreiche Gesicht. Sie kann schön und begehrenswert aussehen, und dann wieder, mit straff zusammengebundenem Haar, hart und unberechenbar. Auf der einen Seite: weich und verletzlich, auf der anderen: beängstigend streng. Ein wunderbares Gesicht für die Leinwand, mit hohen Wangenknochen, wie Josef von Sternberg sie geliebt hätte. Frank Giering ist bekanntermaßen ein hervorragender Darsteller. Ich bewundere ihn seit Hanekes "Funny Games". Frank war prädestiniert für diese Rolle, die es ihm ermöglichte, zentrale Erfahrungen seines Lebens darzustellen. Er engagierte sich außerordentlich, nicht nur für seine Rolle, sondern für das ganze Projekt. Von Anfang an war auch zu spüren, dass er und Anne bestens zusammenpassen.

"Mir gefiel, dass das Stück ohne Schrei-Exzesse und Sex-Szenen auskommt."

Die Bilder und das Spiel haben eine ganz besondere Intensität. Wie stellt man so etwas her?

Durch genaue Vorbereitung, denke ich. Es beginnt mit Leseproben: Wir sitzen am Tisch, lernen uns kennen, experimentieren herum, erhärten den Text. Dann folgen Stellproben, ausführlich, mit Krepp-Band-Markierungen der Räume am Boden. Und schließlich wird die Umsetzung des Ganzen für die Kamera erarbeitet. Wie bei einem Ölgemälde trägt man eine Schicht nach der anderen auf.

Wenden Sie sich mit diesem "Ölgemälde-Prinzip" ausdrücklich gegen jene Inszenierweisen, die mit Handkamera, Videobildern und Improvisationen arbeiten?


Nein. Bei jedem Kunstwerk muss das Verhältnis von Form und Inhalt stimmen. Und der Inhalt bestimmt die Form. Wenn ich zum Beispiel eine Dokumentation mache wie "Land der Vernichtung", dann drehe ich mit einer Mini-DV-Kamera, aus der Hand, ohne Tonmann. Das ist in diesem Fall die richtige Form. Und wenn ich ein Fosse-Stück verfilme, dann arbeite ich mit 6-Kanal-Dolby-Stereo-Ton und Fred Schuler an der 35-mm-Kamera. Dann entstehen klare, durchsichtige, genauestens kadrierte Bilder, welche die lang durchgehaltenen Spannungsbögen im Spiel der Darsteller mittragen.

Wovon handelt "Land der Vernichtung"?

Das ist ein "Making-Before"-Film, entstanden während der Recherchen zu meinem neuen Spielfilmprojekt. Gedreht im Sommer 2003 in Südost-Polen, auf der Suche nach den Einsatz- und Stationierungsorten eines Hamburger Polizeibataillons, das 1942/43 im Rahmen der "Aktion Reinhardt" an Vernichtungskampagnen gegen Juden: Deportationen und Massenerschießungen, beteiligt war. Es gab in den sechziger und siebziger Jahren in Hamburg ein Strafverfahren gegen 300 Angehörige dieses Bataillons, und die Strafverfahrens-Akten, 12.000 Blatt, versuche ich in ein Spielfilmprojekt zu übersetzen. Zur vorbereitenden Recherche also habe ich all diese Orte in Polen aufgesucht, auch die Vernichtungslager Belcek, Sobibor und Treblinka, und filmte Sachen, um sie Co-Autoren, Szenenbildnern, Produzenten zu zeigen. Ohne die Absicht, daraus einen Film zu machen. Mit einem Freund habe ich das Material dann auf dem Heimcomputer geschnitten, und so entstand Land der Vernichtung, den die Berlinale für die Panorama-Reihe eingeladen hat. Formal ist dieser Film das absolute Gegenstück zu Die Nacht singt ihre Lieder. Deswegen freue ich mich auch so auf die Berlinale, weil die ästhetisch-technische Verschiedenheit der beiden Filme etwas von der weiten Spanne der Möglichkeiten zeigt, in der man sich erproben kann.

"Bei der Verfilmung eines Theaterstücks sollte man nie die Vorlage verleugnen."

Seit dem "Totmacher" sagt man Ihnen nach, dass Sie gern "Kammerspiele" und "Täterfilme" machen. Zwei Etikettierungen, die wahrscheinlich auch im Zusammenhang mit "Die Nacht singt ihre Lieder" wieder auftauchen werden.



Wie alle solche Etikettierungen greifen sie zu kurz. Ich habe selbst den Begriff des "Kammerspielfilms" ins Spiel gebracht: im Presseheft, das ich zum "Totmacher" verfasste. Ich grub diesen Begriff - mit dem in den zwanziger Jahren eine Reihe von Filmen bezeichnet wurde, für die Carl Mayer die Drehbücher schrieb – eigentlich nur aus, um plausibel zu machen, warum ein Film, der in einem Zimmer spielt, Kino sein kann.

Kann man die beiden Figuren in "Die Nacht singt ihre Lieder" überhaupt in der Täter-Opfer-Konstellation sehen?

Die Frau scheint die aktivere, sie versucht auszubrechen und hat dann doch Angst davor. Entscheidend ist, was beide gleichermaßen betrifft: das Gefühl der Einsamkeit, des Überfordertseins, vor allem die Ausweglosigkeit ihrer Situation. Die Sympathien oszillieren: Mal sind sie auf Seiten der Frau, mal auf Seiten des Mannes. Der Zuschauer muss selbst entscheiden, welche Haltung er zu den Figuren einnimmt. Das gibt der Film nicht vor, und das ist, was ich ja immer wieder in meinen Filmen will: dass sich der mündige Zuschauer sein Urteil selbst bildet. Bei den Dreharbeiten haben wir immer gewitzelt und gesagt: Wenn ein Liebespaar nach dem Besuch des Films weiterhin zusammenbleibt, dann ist es in wahrer Liebe verbunden.

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