Darsteller, Drehbuch, Produzent
Dillenburg

"Reibung ist wichtig"



Die Perspektive Deutsches Kino wurde 2002 als eigenständige Sektion der Berlinale von Dieter Kosslick und Alfred Holighaus ins Leben gerufen. Sie bietet Filmemachern, die noch am Beginn ihrer Regielaufbahn stehen, die Möglichkeit, sich mit ihrer besonderen Handschrift einem großen in- und ausländischen Publikum zu präsentieren. Anlässlich der nunmehr siebten Auflage der Perspektive Deutsches Kino sprach filmportal.de mit Sektionsleiter Alfred Holighaus über innerdeutsche Beziehungen, den Mut zum Experiment, Türsteher mit Kamerablick und vielversprechende Wellenmacher im Biotop des deutschen Films.


filmportal.de: Herr Holighaus, 2002 wurde die Perspektive Deutsches Kino als eigene Sektion der Berlinale etabliert. Wenn sie zurückblicken, was waren damals die Beweggründe für diese Entscheidung?

Alfred Holighaus: Da war zunächst die grundsätzliche Initiative zu sagen: Wir geben dem deutschen Film einen Stellenwert, der ihm und dem Charakter des Festivals angemessen ist. Auf der einen Seite steht dabei die Überzeugung, dass sich der deutsche Film international sehen lassen kann und man dem Rechnung tragen will, indem man die deutschen Produktionen prominenter – wie etwa im Wettbewerb – platziert.
Und zum anderen hat ein Festival, das hier stattfindet, auch eine gewisse Verpflichtung der eigenen Branche gegenüber: Die Leute sind hier und prägen die Berlinale mit. Vorher waren sie zumeist nur Zaungäste, obwohl sie die Mehrheit der Kreativen stellten, die sich auf dem Festival bewegt haben. Das wollten wir ändern und deshalb haben wir die deutsche Szene stärker in das Festival integriert. Dabei reichte es nicht zu behaupten, dem deutschen Film gehe es gut, und Produktionen in den Wettbewerb einzuladen. Denn man muss auch beweisen, dass man an Zukunft und an Kontinuität glaubt. Um dies zu untermauern, wurde die Perspektive Deutsches Kino gegründet, um damit zu signalisieren: Der deutsche Film erfindet sich ständig neu, es gibt immer wieder neue Strömungen und immer interessante Talente, und das wollen wir in eben jener Kontinuität zeigen und reflektieren, in der es tatsächlich stattfindet. Und das Schöne ist, dass alles nicht nur eine Theorie war, sondern dass wir es in nunmehr sieben Ausgaben beweisen konnten.


Besonderes Augenmerk der Perspektive galt in diesen Jahren auch stets dem experimentellen Kino. So hat man bewusst Arbeiten in diese Sektion geholt, die wohl sonst an den formalen Hürden des A-Festivals scheitern würden. Denken sie, dass dadurch im deutschen Film entscheidende Dinge nach oben gelangt sind, die sonst vielleicht gar keine Beachtung gefunden hätten?

Ich glaube schon. Erstens bin ich sehr froh, wie sie das gerade beschrieben haben, weil es eigentlich genau benennt, was die Perspektive ist und was man auch immer wieder betonen muss: Es geht nicht um das perfekte Werk, es geht eher um das work in progress. Darin blitzt etwas auf, es zeigen sich neue Strömungen, es wird etwas ausprobiert und thematisiert. Und das kann man international zeigen, wenn man es nicht zu großspurig verkauft. Wir haben hier dieses kleine Biotop, wie ich es auch immer gerne nenne, wo eben das möglich ist. Sicher ist es zu früh zu sagen: Ja, da haben wir den Beweis, ohne uns gäbe es weniger interessante Filmemacher. Aber auf jeden Fall ist dies ein Ort, aus dem wirklich etwas hervorgeht und wir kennen Filmemacher, die ihre ersten Arbeiten hier präsentiert haben und danach auf diesem Weg weitermachen, anstatt gleich in den Mainstream zu wechseln.

Zumal wenn man sich die Gewinner des Jurypreises "Dialogue en Perspective" der letzten Jahre vergegenwärtigt, denn dazu gehörten unter anderem Bettina Blümner, Bülent Akinci und Robert Thalheim. Gerade Thalheims "Netto" war dabei ein überaus spannender Film, der eine echte Welle machte und mit einem winzigen Budget für große Aufmerksamkeit sorgte. Das sind doch aufregende Entwicklungen, oder?

Absolut! Und es hat total Spaß gemacht, so etwas mit zu befördern und in einer sehr frühen Phase dabei zu sein. Wir sehen diese Sachen mit als Erste und pflegen guten Kontakt zu dieser Szene von Filmemachern. Ich laufe denen in gewisser Weise auch hinterher, aber die kommen ebenso zu mir und sagen: Guck Dir das mal an. So wie in einer meiner Lieblingsgeschichten, die ich immer wieder erzähle: Es war im zweiten oder dritten Jahr der Perspektive, da kam ich am Tresen eines Lokals ins Gespräch mit jemandem, den ich nicht kannte. Und der dann sagte: "Ich mach" gerade nen" Film und nächstes Jahr läuft der bei Dir." Darauf fragte ich ihn, was er denn eigentlich beruflich mache und er antwortete: "Türsteher". Im Jahr darauf sah ich "Let it Rock" und wollte ihn unbedingt haben – und da rief mich eben dieser Türsteher an, denn das war seine Produktion. Das sind Entdeckungen bei unserer Arbeit, die natürlich einen wahnsinnigen Spaß machen. Und das Gute ist: Es geht weiter. Es gibt Veränderungen und Schwerpunktverlagerungen, klar, aber keinen Stillstand. So ist es auch an den Filmhochschulen, von denen die eine mal mehr, mal weniger stark vertreten ist. Aber es gibt immer etwas zu entdecken, man muss nur die Antenne ausfahren. Doch dafür hat man ja schließlich auch ein ganzes Jahr Zeit.


Vielleicht noch ein Wort zum erwähnten Preis "Perspective En Dialogue" – wie kam es zu dieser deutsch-französischen Kooperation?

Da sind zwei Dinge zusammengekommen. Das erste ist dabei ganz einfach: Wenn ein Sponsor Geld gibt, dann will er etwas dafür haben. Und das sind nun mal meistens Preise. Da hat man dann verschiedene Möglichkeiten. Man kann langweilig sein und sagen: Jetzt küren wir einfach den besten französischen Film im Festival. Oder man überlegt sich: Wo kommen Sachen zusammen, die es vorher noch nicht gegeben hat? Da kam die Idee mit unserem jungen Programm, das eben kein Modeprogramm ist. Dann war plötzlich auch das Deutsch-Französische Jugendwerk mit dabei und wir sagten: Jetzt machen wir auch eine Jury, die anders ist als alle anderen Jurys. Die aus jungen, filminteressierten Laien besteht, und der einzige Profi ist der Vorsitzende, aber der hat kein Stimmrecht, sondern hält nur alles zusammen und ist eine Persönlichkeit, die für den Dialog steht. So haben wir nicht einfach einen Preis verliehen, sondern alle haben sich wirklich etwas dabei gedacht. Dabei ist etwas herausgekommen, was einerseits genuin zu unserem Programm passt, aber auch zu dem Preisstifter TV5 Monde, der zusammen mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk die Brücke zu unseren Inhalten gebaut hat.
Sehen sie das als eine Stärke der Perspektive, diese Formen der Kontextualisierung, mit denen man sich auch von den alten, hierarchischen Festivalstrukturen wegbewegt?
Ja, ich denke schon, wobei sich das einfach ein bisschen ergeben hat: Weil man dieses Programm grundsätzlich etwas lockerer angelegt hat. Das ging, weil wir nicht so strenge Richtlinien wie die anderen Berlinale-Sektionen brauchen, die ja auch in einer echten internationalen Konkurrenz mit anderen bedeutenden Festivals stehen. So eine Sektion wie uns gibt es dort gar nicht, deshalb konnten wir uns auch völlig frei selbst erfinden. Wir merken natürlich auch, dass die Perspektive mittlerweile stärkere Strukturen herausbildet. So gab es in diesem Jahr zwar im Vorfeld viele Filme zu sehen – was natürlich wichtig ist – aber nicht so viele wirklich spannende Arbeiten, die wir haben wollen. Da mussten wir dann mit unserer Auswahl etwas strenger sein. Aber im Prinzip ist unser Programm offener als andere, und dass kann es auch sein, da es keine direkte Referenz bei anderen Festivals gibt.


Das Zusammenspiel der Sektionen ist interessant, zumal man in den vergangenen Jahren beobachten konnte, dass auch Panorama und Forum verstärkt deutsche Filme programmieren. Davor stand natürlich die große Signalwirkung der deutschen Filme im Wettbewerb, wie etwa "Gegen die Wand": Bei der Vorführung im Berlinale-Palast hatte man unweigerlich das Gefühl: "Ok, der gewinnt das Festival".
Ja, genau das Gefühl hatte ich an dem Tag auch. Und das Zusammenspiel mit den anderen Sektionen ist schon sehr eng. Schon daher, weil ich nicht nur die Perspektive mache, sondern – wie ich es immer nenne – der Minister für innerdeutsche Beziehungen im Kabinett Kosslick bin. Damit habe ich den weitesten Überblick, was den deutschen Film angeht, was ja sozusagen meiner Arbeitsplatzbeschreibung entspricht. Und so gebe ich auch immer Signale für die anderen. Wir versuchen natürlich, bei der Programmierung der Sektionen so viel wie möglich zusammen zu sehen und geben uns gegenseitig Empfehlungen. Und so kommt das Zusammenspiel zustande. Ganz konkretes Beispiel: Als ich im letzten Jahr "Jagdhunde" sah, habe ich sofort Christoph Terhechte vom Forum angerufen – der war gerade in Asien – und ihm gesagt, da ist ein Film, den würdest Du sicher gerne spielen. Eine Woche später hat er ihn dann gesehen und eingeladen. Umgekehrt macht er das natürlich auch und sagt mir, wenn er etwas für die Perspektive entdeckt. Aber es ist schon so, dass ich sehr viele Sachen sehr früh sehe. Auch, weil ich ja immer hier bin und nicht soviel unterwegs. Und wenn unterwegs, dann zwischen München, Hof und Oldenburg.
Ich denke dadurch, dass wir soviel untereinander kommunizieren und uns austauschen, hat sich dieses Profil ergeben. So hat sich etwa das Forum zum Spielort der Berliner Schule entwickelt; und auch wenn "Sehnsucht" erst Valeska Griesebachs zweiter Spielfilm war, so gehörte er doch nicht in die Perspektive Deutsches Kino, sondern – Gott sei Dank! – in den Wettbewerb. Ich glaube, da haben wir alle mittlerweile genügend Erfahrung mit unseren Programmen, dass wir unterscheiden können, und ich denke, das wird auch vom Publikum und den Machern verstanden. Aber eine eindeutige Definition, was nun ein Perspektive-, Forum-, Panorama- oder Wettbewerbsfilm ist, wird es nie geben. Das läge auch nicht in der Natur der Sache.

Welche Bedeutung messen sie der fast gleichteiligen Berücksichtigung von Dokumentar- und Spielfilmen im diesjährigen Perspektive-Programm bei?
Es ist gar nicht soviel anders als in den vorherigen Jahren, doch denke ich, dass die Dokumentarfilme in diesem Jahr etwas mehr auffallen. Grundsätzlich glaube ich, dass wir gerade in einer Phase sind, in der Dokumentarfilme wieder stark sind und viel zu erzählen haben. Das hat auch damit zu tun, dass sich diese Filme heute ganz selbstverständlich trauen, viel stärker von Emotionen zu berichten und über Emotionen zu funktionieren. Und damit letztlich wieder kinotauglicher zu werden: Es steckt eine Sinnlichkeit in den Dokumentarfilmen, die sie stark macht. Das ist eine neue Qualität, die sich seit ein paar Jahren zeigt und dank der man bei den Filmen aus dem Vollen schöpfen kann.


Wodurch zeichnet sich das Programm 2008 aus – Kontinuität oder aufsehenerregender Bruch mit Konventionen?
Sie bemerkten vorhin im Zusammenhang mit "Netto" ganz richtig, dass der Film eine echte Welle gemacht hat. Das wusste man in dem Moment, in dem man den Film gesehen hatte. Ich hatte ihn schon im August zuvor gesehen und mir war klar: Der wird ein Thema. Und das habe ich in dem Sinne im diesjährigen Programm nicht. Mir ist allerdings aufgefallen, dass in diesem Jahr – und das wäre, wenn man so will, der Bruch – ganz eindeutig das Thema vor der Form steht. Und es sind sehr erwachsene Themen, also das, was man früher ganz klassisch gesellschaftsrelevante Themen nannte. Das ist etwas, dass ich in dieser Dichte bisher noch nicht hatte.

Also weg vom Juvenilen, Verspielten?
Genau: Weg vom Juvenilen, aber auch weg vom Kunstgewerbe. Eigentlich will ich es nicht so nennen, doch es ist ja gerade die Gefahr bei "Anfängern", sich in artistischen Formen zu verlieren. Stattdessen geht es jetzt ganz klar hin zur Überzeugung: Wir haben ein Thema und wir wollen etwas dazu erzählen. Ob es nun Jugendkriminalität ist oder Gewalt gegen Kinder, es sind Geschichten, die nun stärker im Vordergrund stehen.


Zum Schluss ein Perspektivwechsel: Sie sind nicht nur Festivalmacher, sondern auch Journalist, erfolgreicher Produzent und zudem Mitglied in den wichtigsten Gremien der kulturellen und wirtschaftlichen Filmförderung. Wenn man aus so vielfältigen Blickwinkeln die deutsche Filmlandschaft betrachtet, wie nimmt man dann die Neigung der Branche war, so häufig zwischen Euphorie und Katzenjammer zu schwanken?
Es ist schon so – erst himmelhochjauchzend, dann ganz schnell zu Tode betrübt. Ich erinnere mich noch, als 1997 der Marktanteil binnen zwei Monaten auf über 30 Prozent stieg und viele dachten: Wir sind wieder wer. Und wenn dann der Anteil wieder mal unter 20 Prozent sinkt, ist es plötzlich ganz schlimm. Ist es aber gar nicht. Es könnte zwar mehr sein, aber der Marktanteil international ist im Vergleich viel stärker zurückgegangen. Dass heißt, es ist durchaus eine Konsolidierung da und es gibt vor allem auch größere Kontinuität.
Und auch das Phänomen, dass ein einziger Film alles rausreißt, relativiert sich. Denn das Jahr 2006 mit dem besonders hohen Marktanteil von 25 Prozent war auch genau das Jahr, in dem sechs Filme so viele Zuschauer hatten und eben nicht nur einer. Und da müssen wir eigentlich hin, denn das untermauert das Selbstbewusstsein und Selbstverständnis der Branche natürlich viel stärker als der eine Bully- oder wie früher der eine Otto-Film im Jahr. Wenn es sechs Filme im Jahr gibt, die zwischen einer und zweieinhalb Millionen Zuschauern machen, hält das die Sache wirklich künstlerisch und kommerziell am Leben. Und ich denke, so ein Jahr haben wir jetzt wieder vor uns.

Wenn sie sich noch etwas für das Festival und den deutschen Film wünschen dürften, was wäre das?

Für die Perspektive, dass sie die Selbstbehauptung, auf der sie basiert und die sie bisher auch eingelöst hat, auch weiterhin einlösen wird. Und für den deutschen Film vor allem, dass sich das Image ändert. Es ist derzeit leider so, dass das Image noch der Qualität hinterherhechelt.
Außerdem: Dass man sich vielleicht auch manchmal noch mehr am deutschen Film reiben kann: Das Pendel kann ruhig noch ein bisschen mehr ausschlagen, aber dafür müssen natürlich alle Verantwortlichen mitarbeiten.
Reibung ist wichtig?
Reibung ist wichtig, sehr wichtig sogar. Denn dadurch entsteht nicht nur Wärme, sondern eben auch Auseinandersetzung, Lebendigkeit, Kreativität: Es geht einfach weiter.



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