Moritz in der Litfaßsäule

DDR 1982/1983 Spielfilm

Rückzug nach innen



Ralf Schenk, Film und Fernsehen, Berlin/DDR, Nr. 2, 1984

Moritz hat die Nase voll. Alle mäkeln an ihm herum. Ein Außenseiter sei er, wird gesagt, und es wäre höchste Eisenbahn, daß er sich endlich anpasse. Dabei ist er doch weiter nichts als etwas langsam.

Man hat keine Zeit mehr für die Bedächtigen, kaum noch ein Auge für ihre Individualität. Streß allerorten. Zu Hause deklamiert der Vater, Sparkassendirektor (Dieter Mann: nett, bieder), bei jeder sich bietenden Gelegenheit: "Das wichtigste ist, daß der Mensch lernt, seine Zeit genau einzuteilen!" Dann hängt er ein Schild an die Tür seines Zimmers, und wehe dem, der es übersieht: "Bitte nicht stören!" Die Mutter (Walfriede Schmitt: wirbelnd) absolviert neben den Familienpflichten auch noch ein Fernstudium. Der Mathelehrer (Jörg Panknin: streng und bemüht, gerecht zu sein) muß seinen Plan schaffen, er kann keine Rücksicht nehmen auf die, die nicht mitkommen. Moritz aber träumt gern, ihn beschäftigt viel mehr als Addition und Subtraktion, ob auf den funkelnden Sternen Diamanten wachsen, ob Flöhe aus Eiern schlüpfen.

Und dann, weil er in dieser rationalen Welt seinen Sinn fürs Phantastische behalten hat, skizziert er im Zeichenunterricht eine Sonne mit Ohren und Vögel mit Hüten, was ihm Schelte der Lehrerin einbringt: "Du sollst die Natur malen, wie sie ist!", sagt sie (Franziska Troegner: unsensibel, kleingeistig). Alle meinen es nur gut – und keine der Erwachsenen-Figuren wird durch übertriebene Karikatur denunziert. Das Erschrecken erwächst vielmehr aus ihrer Normalität.


Ich bin gegangen. es hat mir nicht mehr gefallen

schreibt Moritz schließlich auf einen Zettel. Heimlicher Abschied von Zuhause, von der Familie, der Schule. Flucht nach innen: es ist eine Litfaßsäule, in die sich der Junge verkriecht. Anlaß: Sein Vater, zu dem er trotz alledem noch Vertrauen hatte, verriet ihn, verleugnete den Sohn, hatte keine Muße für die Wahrheit. Moritz, so unsagbar einsam, packt die Tasche. Er geht.



Das Gute an vielen unserer Kinderfilme ist, daß Konflikte, die innerhalb einer Familie aufbrechen, zwischen Vater und Sohn etwa, sich nicht aufs Private beschränken. Vielmehr wird mit ihrer Hilfe Umfassenderes eingebracht: Lebenshaltungen prallen aufeinander, deren Träger nicht abhängig sind von Alter, Geschlecht, Beruf. Filme mit Parabelcharakter, mal mehr, mal weniger von einem naturalistischen Abbild entfernt. Unterstrich "Mein Vater ist ein Dieb" das Prinzip konsequenter Ehrlichkeit, das gegen allgemein praktizierte Schwindelei gesetzt wird, führt "Moritz in der Litfaßsäule" den Versuch vor, spielerische Phantasie in einer Umgebung zu bewahren, die durch übertriebene Rationalität verkniffen und verarmt ist. Ein Plädoyer fürs Individuelle.

Daß im Kinderkino solche grundsätzlichen Debatten dank positiver, fragender, unbequemer Kinderfiguren weitaus schärfer ausgetragen werden als im Kino für Erwachsene (dessen Helden momentan entweder lasch oder über Gebühr verklausuliert sind), stimmt nachdenklich. Unser Kinderfilmschaffen jedenfalls ist eine beachtliche ideelle Größe innerhalb der DEFA-Produktion.
Zugegeben: Bei sehr jungen Menschen als Helden wirken drängende Naivität und Offenheit noch so natürlich, daß dies keiner in Abrede stellt – bei Erwachsenenfiguren mit ähnlichen Charakterzügen könnte man leicht dazu tendieren, ihn (oder sie) als Spinner, als "tumben Toren" abzutun. Freilich sollte das unsere Filmschaffenden nicht davon abhalten, unter anderem die Suche nach "reinen Wesen" fortzusetzen, moralisch integren, in ihren Anschauungen rigorosen Kunstfiguren, die auch mit großen Gefühlen ausgestattet sind, Katalysator-Figuren also, durch deren Sein und Handeln ihre Umgebung in klarem Licht erscheint, der Zuschauer aufgewühlt wird. (…)

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