Winterschläfer

Deutschland 1996/1997 Spielfilm

Winterschläfer


Josef Lederle, film-dienst, Nr. 41, 14.10.1997

Von der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Liebe handeln alle bisherigen Arbeiten der Berliner Cineasten-Quadriga "X-Film Creative Pool" – aber auch von der Schwierigkeit, anspruchsvolle Themen, ambitionierten Stilwillen und ein breites Publikum unter einen Hut zu bringen. Nach Dani Levys "Stille Nacht" (fd 31 848) und "Das Leben ist eine Baustelle" (fd 32 448) von Wolfgang Becker präsentiert Tom Tykwer ein eindringliches Liebes- und Beziehungsdrama, das erzählerische Wucht, formale Brillanz und eine wache Reflexion deutscher Befindlichkeiten zu einem spannenden, hochaktuellen Stück Gegenwartskino vereint. Vom ersten Augenblick nimmt die Kraft der intensiven CinemaScope-Bilder für sich ein, wenn die Kamera in der fünfminütigen Eingangssequenz durch eine verhangene Schneelandschaft talwärts schießt und die Hauptfiguren in einer dichten Parallelmontage skizziert werden: vier junge Erwachsene um die Dreißig und der mürrische Bergbauer Theo, der mit seinem verrosteten Schneepflug durch die Straßen in den Berchtesgadener Alpen kriecht. Es ist die Woche nach Weihnachten, das öffentliche Leben der kleinen namenlosen Stadt köchelt auf Sparflamme. In einer alten Villa wartet Rebecca auf den Anruf von Marco, einem Skilehrer, der die Feiertage bei seinen Eltern und einer anderen Geliebten in Hamburg verbrachte. Richtung Gebirge fahren auch die Krankenschwester Laura, die Besitzerin der Villa, und René, Vorführer im örtlichen Kleinkino. Ein seltsamer, hagerer Mensch, der unter Störungen des Kurzzeitgedächtnisses leidet und deshalb sein Leben mit Fotoapparat und Tonband dokumentiert. Enervierende, minimalistische Töne sind diesen kunstvoll montierten Szenen unterlegt, die Assoziationen an einen Thriller wecken. Um einen solchen scheint es sich auch zu handeln, wenn Rene nach durchzechter Nacht in Marcos blauen Sportflitzer steigt und auf überfrorener Fahrbahn zu einer Spritztour losbraust. Wenig später wühlt er sich benommen durch eine Schneewehe und läuft irritiert davon, als er auf der Straße ein umgestürzten Fahrzeug mit Pferdeanhänger sieht, ohne von dem bewußtlosen Theo und seiner schwerverletzten Tochter Notiz zu nehmen. Mit diesem Unfall und seinen Folgen ist der äußere Erzählrahmen markiert, innerhalb dessen Tykwer in immer neuen Wendungen ein dichtes Gespinst über Verlust und Lebensangst, Tod und Neuanfang entfaltet. Die losen Fäden, die alle über die Figur des erinnerungslosen Rene zusammenlaufen, werden primär nicht zum Krimi verknüpft, sondern zum vielschichtigen Netzwerk weitergesponnen: dem Porträt einer tragisch vereinzelten Generation, die sich wie Tiere im Winterschlaf in die isolierten Hüllen ihrer Körper und Wohnhöhlen zurückgezogen hat. Während der um die Existenz seines Hofes kämpfende Bauer nur noch über eine rätselhafte Schlangenlinie grübelt, die sich ihm nach dem Beinahezusammenstoß eingeprägte – eine Narbe an Renés Hinterkopf – , und seine Tochter mit dem Tod ringt, sucht Marco den Dieb samt seinem unter Schneemassen begrabenen Auto. Ein hoffnungsloses Unterfangen, das ihn nur kurz von den wachsenden Streitereien mit Rebecca abhält, die zwischen Gelegenheitsjobs und mäßig bezahlten Übersetzungen vom Glück in ihrem Leben träumt.

Laura, ihre bodenständigere, aber magersüchtige WG-Genossin, die bei der Notoperation des Kindes assistiert, verpatzt wenige Stunden später ihren Auftritt in "Endstation Sehnsucht", lernt dadurch aber René kennen. Dem Zufall, der bei diesen Begegnungen Regie führt und auch im weiteren Verlauf bizarre Konstellationen zeitigt, fehlt jeder Anflug von Schicksalhaftigkeit, wie auch die weißen Berge bar jeder mystischen Aura sind. Weder über den Wegen der beiden Liebespaare, die sich in der Villa kreuzen, noch über dem sterbenden Kind wacht ein guter Gott: Auf das naive Schutzengelbild im Krankenzimmer fällt ein fahler Schatten; die behaglichen Räume der mit Antiquitäten vollgestellten Villa wehren weder Mißverständnisse noch Verzweiflung ab; die Hoffnung, an einem anderen Ort neu anzufangen, erweist sich als trügerische Illusion.

Tykwers Blick ist nüchtern – und ungeheuer filmisch. Mit immenser Kreativität entwerfen er und Kameramann Frank Griebe eine emotionale Topografie aus Atmosphären und Stimmungen, in denen sich die seelischen Zustände der Protagonisten widerspiegeln. Durch raffinierte Überblendungen und den wohldosierten Einsatz der von Tykwer größtenteils selbst komponierten Filmmusik verschmelzen die verschiedenen Einzelstränge fast nahtlos zur homogenen Geschichte. Der lange Atem des Films, sein spannender Rhythmus und die Frage, auf welches Ende die spärlich pointierte Handlung zuläuft, resultieren aus geschickt gestreuten Rätselhaftigkeiten und wohltuend kurzen, aufs Wesentliche konzentrierten Dialogen. Das überzeugende Spiel der Darsteller trägt großen Anteil daran, Stillstand und Ausbruchsversuche aus den eingefahrenen Strukturen realistisch und glaubwürdig erscheinen zu lassen. Trotz der durchgehenden Ambivalenz aller Figuren beläßt es Tykwer nicht beim "rien ne va plus", sondern deutet Veränderungen an. Am drastischsten bei Rebecca und Marco, deren Machtkampf aus der Unfähigkeit erwächst, offen miteinander zu sprechen. In der furiosen Schlußsequenz schließt sich optisch der Kreis zum Anfang und endet eine Beziehung, die weniger an Marcos Eskapaden als an mangelnder Selbsttranszendenz scheitert. René und Laura dagegen bewahren sich ein gutes Stück Skepsis und schauen ihrem unverhofften Elternglück reserviert, aber entschieden entgegen. Und Theo findet seinen Frieden, weil er glaubt, den Tod seiner Tochter gerächt zu haben.

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