Sternsteinhof

BR Deutschland 1975/1976 Spielfilm

Trivialität ganz ernst genommen




Wolf Donner, Die Zeit, 26.03.1976

Die etwas hysterische Debatte über den neuen deutschen Film hat sich gelegt, die überdrehte Erwartungshaltung gegenüber jedem neuen Titel scheint dem Alltag zu weichen, pragmatischer Vernunft und freundlicher Aufmerksamkeit auf allen Seiten. In diese Situation kommen zwei Filme jüngerer Regisseure, die bewusst einfach, eingängig und kommerziell attraktiv sein wollen, die das Risiko eingehen, zwei missbrauchte, verkommene Genres, den Heimat- und den Simmel-Film, wieder ernst zu nehmen: Hans W. Geissendörfers "Sternsteinhof" nach Ludwig Anzengruber und Roland Klicks "Lieb Vaterland, magst ruhig sein" nach Johannes Mario Simmel. Zwei Verfilmungen dicker Schinken von sogenannten Volksschriftstellern, zwei Erneuerungsversuche spezifisch deutscher Kino-Unterhaltungsmuster, zweimal die Chance und der Vorsatz, Trivialität mit Ambition zu verknüpfen, populär und ehrlich zu sein.

"Sternsteinhof" spielt in einem niederbayerischen Dorf um die Jahrhundertwende. Die arme Leni will aus dem Dreck und Elend ihrer Hütte hinauf in die sonnige Wohlhabenheit des Sternsteinhofs. Zwar heiratet sie erst den armen Herrgottschnitzer von nebenan und der reiche Erbe von oben eine andere, eine vermögende Bäuerin, aber die sterben beide; Leni weiß das vorher oder hilft nach, und schließlich ist sie am Ziel.

"Lieb Vaterland" spielt 1964 in Berlin, drei Jahre nach dem Mauerbau, Bruno, Ex-Ganove aus Wedding, jetzt in der DDR, soll in Westberlin den Boß einer Fluchthilfeorganisation kidnappen. Er paktiert jedoch mit den westlichen Behörden, will bleiben, seine Freundin nachholen und ein neues Leben beginnen. Aber die Geheimdienste spielen nicht mit, benutzen ihn nur so abgefeimt wie die Sensationspresse – am Ende ist seine Freundin tot, sitzt er selber im Knast.

"Sternsteinhof": eine düstere Bauerntragödie, ein schweres, erdiges Melodram, ein ländliches Sittengemälde. "Lieb Vaterland": ein Puzzle aus der fiebrigen Zeit des Kalten Krieges an seinem neuralgischen Punkt, ein politischer Reißer, eine Berliner Chronik. Thema dort wie hier: die kleinen Leute, nicht unbedingt blütenrein und keusch und makellos, aber durchaus tauglich als Identifikations-Offerten, im Kamp gegen die Großen, Reichen, Mächtigen; der Weg nach oben und der Pakt mit der Macht, Spiegelbilder vom alltäglichen Daseinskampf, von Karriere, Lebenszielen, dem Sichdurchboxen von Einzelgängern.

Erstaunlich gleichartig klingt, die programmatische Rechtfertigung der beiden Regisseure. Der Heimatfilm, sagt Geissendörfer, wurde "ungeheuer missbraucht", Anzengrubers Roman aber erschien ihm "eine Möglichkeit, das Genre ganz ernst zu nehmen", er wolle "genauer" arbeiten, sein Film "soll ins Herz gehen und in den Kopf. Aber erst ins Herz, bitte schön".
Auch Klick sagt "ernst nehmen" und spricht, einigermaßen befremdlich bei einem Simmel-Stoff von Respekt, Liebe, Würde. Es gelte, das Millionenpublikum Simmels nicht zu verschaukeln und die Figuren, ihre Gefühle und Motive nicht überlegener Arroganz preiszugeben, sondern "Glaubwürdig, genau, gerecht" zu sein.



Heimatfilme als Geschichten, "die nun wirklich Hinz und Kunz angehen....", ohne den Leuten was vorzulügen" (Geissendörfer); der Actions-Film als ein "Verfahren der Fairneß" gegenüber den Figuren und den Zuschauern, als "Zuwendung zum Publikum" (Klick).

Man muß diesen Anspruch messen am Vorhandenen. Der Heimatfilm der fünfziger Jahre bot bis auf wenige Ausnahmen eine geschlossene heile Welt voller kitschiger Postkartenlandschaften, ländlicher Stereotypen und verlogener Gefühle, voller trällernder Folklore, simpelster Schwarzweißmalerei, spektakulär aufgemöbelter Fauna und Flora; seine Ideologie war ein dumpfes Gebräu aus patriarchalischer Ordnung, tumber Gottesfurcht, starr-konservativer Tradition, markigen "Blut-und-Boden"-Sentenzen.

In Anlehnung an den "kritischen Heimatfilm" Ende der sechziger Jahre sieht Geissendörfer im Bauernmilieu, dem er eine für heutige Zuschauer zwangläufige Künstlichkeit durchaus zugesteht, eher das Modell, die soziale Fallstudie: stat autoritärer Strukturen und Traditionen deren Denunziation, statt alberner Operettenschemen realistische, glaubhafte Figuren, statt bukolischem Firlefanz das tatsächliche, sinnlich erfahrbare Gefälle vom Reichtum und Armut.
Am gelungensten im "Sternsteinhof" und darin die radikalste Abkehr von überkommenen Schablonen ist das Spektrum der Personen. Katja Rupés Leni: eine Lady Macbeth auf dem Dorfe, ein Dämon und ein armes Luder, planvoll und spontan, zäh und wie von allen Furien getrieben. Sie bestritt als bescheidene Besucherin zum erstenmal das begehrte Gehöft: eingeschüchtert und schon besitzergreifend, zaghaft und stolz, sie staunt und mustert schon. Wenn ihr die teufliche Idee kommt, ihren Mann zu töten, da die Frau des andern ohnehin im Kindsbett sterben wird, ist sie selber erschrocken, leidet an der zwanghaften Unerbittlichkeit ihres Wegs. Sie wird immer härter, erbarmungswürdiger, einsamer; die Emotionen richten sich nicht gegen sie, sondern gegen die Zustände, die sie so handeln lassen.

Etwas beunruhigend Schillerndes zeichnet alle Figuren des Films aus: Tilo Prückner, Peter Kern, Agnes Fink, Elfriede Kuzmany, Irm Hermann, Ulrike Luderer, Gustl Bayrhammer. Ein so überzeugendes Ensemble, ein so intensives Zusammenspiel sieht man selten.



Da hat es Roland Klick schwerer, denn Simmel bleibt Simmel, den wandelnden Pappkameraden dieser Fließbandkolportage lassen sich mit bestem Willen keine realistischen Konturen verpassen. Simmel-Romane und ihre Verfilmungen von Alfred Vohrer: auf modischen Pep getrimmte, schwer entwirrbare Knäuel aus immer den gleichen Figuren, Schauplätzen und Handlungsmodellen, ein politischer Anlaß plus große Liebesgeschichte plus Spionage plus Sex; die Klischees von "Bild", das Weltbild erzkonservativer Politiker, die schmalzige Ästhetik von Werbefilmen.

Besonders am Anfang gelingt Klick etwas ähnliches wie Geissendörfer: das verhunzte Ambiente wieder zu konkretisieren, den historisch-politischen Rahmen seiner Geschichte plausibel zu vermitteln. Ein Blick aus dem Fenster, ein Panzer, ein rotes Transparent – aha, Ostberlin; ein Mauer-Kommentar im Rias, "brutale Machthaber eines Unrechtssystems... monströses Bauwerk", Stadtrundfahrt, Brandenburger Tor und Modeaufnahmen davor, ein US-Army-Wagen, die Havel, Touristen an der Grenze, langsam schieben sich die Personen der Handlung in dieses atemlose, semi-dokumentarische Stakkato – ein furioser Beginn, angespannt und prall, die ganze Hysterie, Nervosität und Widersprüchlichkeit Berlins in den Sechzigern ist darin.

Klick setzt mehr auf Gesichter, Typen als aufs Spiel, auf innere Vorgänge, Entwicklungen. Bruno, gespielt von dem Laien Heinz Domez, einem einschlägig vorgebildeten Kneipier von St. Pauli, ist am besten in der Totalen und stumm, als Type eben. Klick: "Er ist kein Laie, er ist ein Star!" Na ja. Immerhin bringt Domez, der bisher Dohmes hieß, eine rührende Ehrlichkeit ins Spiel und beschäftigt einen dadurch mehr als etwa Günter Pfitzmann, der seinen heuchlerischen Kommisar mit schrecklich künstlichem Berliner Dampf röhren darf. Die Schauspieler bis auf die Simone-Signoret-Tochter Cathérine Allégret, tun durchweg zu viel, wirken überinszeniert, outrieren. Die Action-Szenen sind dagegen von einer professionellen Verve, die ihresgleichen sucht.



Zwei Publikumsfilme, technisch sorgfältig gemacht, zweimal die Gratwanderung zwischen Gefühligkeit und kritischem Anspruch, altem Raster und neuem Inhalt. Ein paar Mal kippt das um, ahnt man Zugeständnisse, bleibt ein Unbehagen. Bei Geissendörfer erscheinen mir die Bauern, besonders die Statisten, zu naiv und holzschnittartig, der Dialog oft wie zitierte Lebensweisheiten sehr ferner, exotischer Wesen. Der Anfang ist zu stark mit Musik zugepappt, der Schluß wuchert aus zur illustrierten Kirchenchronik über Taufen, Hochzeiten, Geburten, Todesfälle.

Die Vorbehalte bei Klick sind stärker. Die Handlung verheddert sich, die Liebesgeschichte droht im Agenten-Clinch unterzugehen, der Dialog pendelt manchmal zwischen synthetischer Volksnähe und strapazierter Gedankenschwere. Vor allem ist mir "Lieb Vaterland" zu sehr ein Simmel-Film, zu grell und klotzig; er rutscht in das alte spekulative Nebeneinander von Tränen und Sex, hochdramatischer Action und tieftragischer menschlicher Bitternis.

Mag also der Anzengruber-Film etwas zu episch breit und der Simmel-Film zu knallig geraten sein: die Qualitäten überwiegen, und der ernsthafte Versuch junger Regisseure, aus der diktierten Außenseiterposition endlich ans große Publikum zu kommen, ist so verständlich wie filmpolitisch notwendig. Ein Vergleich mit der aufdringlichen Dummheit der Habe-Verfilmung "Das Netz" zeigt, dass nur bei den Jungen Regisseuren die Chancen für das deutsche Kino liegen.

© Wolf Donner

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