Das 47. Berlinale Forum zeigt 43 Filme im Hauptprogramm, davon 29 als Welt- und zehn als internationale Premiere. Besonderes Augenmerk legt das diesjährige Programm auf den extremen Formenreichtum des Dokumentarfilms.
Dabei sind Beiträge aus Südostasien, Europa, Latein- und Nordamerika, dem Nahen Osten und Afrika. Mit Institutionenporträts, Langzeitbeobachtungen, partizipierenden, narrativen, autobiografischen, essayistischen, ethnografischen, politischen und experimentellen Arbeiten ist die Bandbreite auffallend groß. Dazu gesellen sich Hybride, die weder dem Dokumentar- noch dem Spielfilm eindeutig zuzuordnen sind. Häufig dient die Landschaft nicht als Hintergrund, sondern spielt eine Hauptrolle.
Filme aus Lateinamerika bilden einen regionalen Schwerpunkt. Mit insgesamt sechs Beiträgen aus Brasilien, Peru, Chile, Mexiko und Argentinien zeichnet sich ein weites Spektrum filmischer Formen ab.
Davi Prettos Spielfilm "Rifle" begibt sich in die Weiten des brasilianischen Südens und inszeniert dort einen modernen Western: Ein junger, wortkarger Ex-Soldat soll das Anwesen eines Kleinbauern schützen. Als ein Agrarkonzern das Land aufkaufen will, greift er zu drastischen Mitteln.
Die peruanischen Brüder Alvaro und Diego Sarmiento nähern sich in beeindruckenden Bildern dem schwerfälligen Tempo des grünen Flusses: "Río Verde. El tiempo de los Yakurunas" ("Green River. The Time of the Yakurunas") ist eine aufmerksame Beobachtung des Alltags von indigenen Bewohnern des Amazonasgebietes.
Die Chilenin Camila José Donoso porträtiert in "Casa Roshell" eine ungewöhnliche Einrichtung in der mexikanischen Hauptstadt: Dort lernen Männer tagsüber, wie man zur Frau wird, nachts steigt die Party. In dieser kleinen Utopie verschwimmen jegliche Grenzen: zwischen schwul, bi und hetero, männlich und weiblich, Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Fiktion.
Lebensnah und surreal zugleich ist Vladimir Duráns Debütfilm "Adiós entusiasmo" ("So Long Enthusiasm"), einer von gleich drei argentinischen Filmen im Hauptprogramm. Der zehnjährige Axel wohnt mit seiner Mutter und seinen drei Schwestern zusammen in einer Wohnung in Buenos Aires. Eine ganz normale Familie – wäre die Mutter nicht eingesperrt.
Der Bildhauer und Installationskünstler Adrián Villar Rojas zeigt mit "El teatro de la desaparición" ("The Theatre of Disappearance") ein hypnotisierendes Triptychon, das einen latenten Kriegszustand in mal sinnlich, mal scheinbar zufällig verknüpften Bildern von verschiedenen Kontinenten und in disparaten Stilen darstellt.
Der komplexen jüngeren Geschichte Argentiniens nähert sich Albertina Carris "Cuatreros" ("Rustlers"): Isidro Velázquez war ein Räuber und Dissident der 60er Jahre, sein Leben gab die Vorlage für ein soziologisches Buch ihres Vaters Roberto Carri und einen inzwischen verschollenen Spielfilm ab. Anhand von Archivbildern versucht die Regisseurin, ihre Biografie mit den historischen Umständen in Einklang zu bringen.
Nachdem das Sensory Ethnographic Lab bereits mit Filmen wie "Sweetgrass, Leviathan" und "Yumen" in Forum und Forum Expanded vertreten war, kehren mehrere seiner Schlüsselfiguren zurück. Verena Paravel und Lucien Castaing-Taylor verarbeiten mit "somniloquies" Tonaufnahmen des berühmten Schlafredners Dion McGregor. J.P. Sniadecki und Joshua Bonnetta sezieren in "El mar la mar" die Sonora-Wüste – eine Landschaft, die von der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze gezeichnet ist.
Das nordamerikanische Kino ist im diesjährigen Forum wieder stark vertreten. In "Golden Exits" erzählt Alex Ross Perry von einer jungen Australierin, die für einige Monate nach New York kommt und unversehens das Leben von zwei Paaren durcheinander bringt.
In Borough Park, Brooklyn, spielt "Menashe", das weitgehend in jiddischer Sprache gehaltene Spielfilmdebüt von Joshua Z Weinstein. Nach dem Tod seiner Frau kämpft Menashe um das Sorgerecht für seinen Sohn. Doch die chassidische Gemeinde verlangt ein geordneteres Leben und eine neue Ehefrau. Mit beidem tut sich der ungelenke Einzelgänger schwer.
Auch Amman Abbasi zeigt im Forum sein Spielfilmdebüt. Es erzählt von einem 13-jährigen, dem nach dem Tod seines Bruders die Orientierung fehlt. Die Initiation in eine lokale Gang erscheint als notwendiger Schritt in das Erwachsenenleben. "Dayveon" beschreibt die Suche nach Brüderschaft in einer schwarzen Community im ländlichen Süden der USA.
In Missouri entstand die sensible Langzeitbeobachtung "For Ahkeem" von Jeremy Levine und Landon Van Soest. Im Mittelpunkt steht Daje, die mit ihrer alleinerziehenden Mutter in St. Louis lebt. Wie viele schwarze Jugendliche aus ihrer Nachbarschaft hat sie Probleme in der Schule und immer wieder erschüttert der gewaltsame Tod von Freunden ihren Alltag.
Unter den zahlreichen starken dokumentarischen Arbeiten im Programm sind auch deutsche. Ann Carolin Renninger und René Frölke begleiten in "Aus einem Jahr der Nichtereignisse" ("From a Year of Non-Events") ein Jahr im Leben eines norddeutschen Bauern, der fast 90-jährig alleine auf seinem Hof lebt.
Heinz Emigholz, seit vielen Jahren eine bekannte Größe im Forum, kehrt mit der Serie "Streetscapes" zurück, die vier eigenständige Filme lose miteinander verknüpft. "2+2=22 [The Alphabet]" dokumentiert die Aufnahmen für das Album "ABC" der Elektronikband Kreidler in Tiflis, Georgien. "Bickels [Socialism]" beschäftigt sich mit der Architektur Samuel Bickels‘, der zahlreiche Kibbuzbauten und Museen in Israel realisierte. Einen fiktionalisierten Dialog über das Filmemachen, der auf dem Protokoll einer psychoanalytischen Mammutsitzung basiert, zeigt "Streetscapes [Dialogue]", gedreht in Gebäuden von Julio Vilamajó, Eladio Dieste und Arno Brandlhuber in Uruguay und Berlin, die zum Teil auch im Schlusskapitel "Dieste [Uruguay]" wieder auftauchen.
Auch Nicolas Wackerbarths Spielfilm "Casting" widmet sich dem Filmemachen selbst. Bei der Besetzung der Hauptrolle eines Fassbinder-Remakes fürs Fernsehen will Regisseurin Vera keine Kompromisse eingehen. Anspielpartner Gerwin trifft auf eine Riege prominenter Schauspielerinnen und wittert eine Chance, sich zu profilieren. Prominent besetzt ist der Film mit Ursina Lardi, Andrea Sawatzki, Corinna Kirchhoff, Judith Engel, Marie-Lou Sellem und vielen anderen.
Die Filme des 47. Forums
"2+2=22 [The Alphabet]" von Heinz Emigholz, Deutschland – WP
"Adiós entusiasmo" ("So Long Enthusiasm") von Vladimir Durán, Argentinien / Kolumbien – WP
"At Elske Pia" ("Loving Pia") von Daniel Joseph Borgmann, Dänemark – WP
"Aus einem Jahr der Nichtereignisse" ("From a Year of Non-Events") von Ann Carolin Renninger, René Frölke, Deutschland – WP
"Autumn, Autumn" von Jang Woo-jin, Republik Korea – IP
"Barrage" von Laura Schroeder, Luxemburg / Belgien / Frankreich – WP
"Bickels [Socialism]" von Heinz Emigholz, Deutschland / Israel – WP
"Casa Roshell" von Camila José Donoso, Mexiko / Chile – WP
"Casting" von Nicolas Wackerbarth, Deutschland – WP
"Chemi bednieri ojakhi" ("My Happy Family") von Nana & Simon, Deutschland / Georgien / Frankreich
"Cuatreros" ("Rustlers") von Albertina Carri, Argentinien – IP
"Dayveon" von Amman Abbasi, USA – IP
"Dieste [Uruguay]" von Heinz Emigholz, Deutschland – WP
"Drôles d’oiseaux" ("Strange Birds") von Elise Girard, Frankreich – IP
"For Ahkeem" von Jeremy Levine, Landon Van Soest, USA – WP
"Golden Exits" von Alex Ross Perry, USA – IP
"Jassad gharib" ("Foreign Body") von Raja Amari, Tunesien / Frankreich
"Loktak Lairembee" ("Lady of the Lake") von Haobam Paban Kumar, Indien
"Maman Colonelle" ("Mama Colonel") von Dieudo Hamadi, Demokratische Republik Kongo / Frankreich – WP
"El mar la mar" von J.P. Sniadecki, Joshua Bonnetta, USA – WP
"El mar nos mira de lejos" ("The Sea Stares at Us from Afar") von Manuel Muñoz Rivas, Spanien / Niederlande – WP
"Menashe" von Joshua Z Weinstein, USA / Israel – IP
"Mittsu no hikari" ("Three Lights") von Kohki Yoshida, Japan – WP
"Mon rot fai" ("Railway Sleepers") von Sompot Chidgasornpongse, Thailand - IP
"Motherland" ("Bayang Ina Mo") von Ramona S. Diaz, USA / Philippinen – IP
"Motza el hayam" ("Low Tide") von Daniel Mann, Israel / Frankreich – WP
"Mzis qalaqi" ("City of the Sun") von Rati Oneli, Georgien / USA / Niederlande / Katar / USA – WP
"Newton" von Amit V Masurkar, Indien – WP
"Occidental" von Neïl Beloufa, Frankreich – IP
"Qiu" ("Inmates") von Ma Li, China – WP
"Rifle" von Davi Pretto, Brasilien / Deutschland – IP
"Río Verde. El tiempo de los Yakurunas" ("Green River. The Time of the Yakurunas") von Alvaro Sarmiento, Diego Sarmiento, Peru – WP
"Shu'our akbar min el hob" ("A Feeling Greater than Love") von Mary Jirmanus Saba, Libanon – WP
"somniloquies" von Verena Paravel, Lucien Castaing-Taylor, Frankreich / USA – WP
"Spell Reel" von Filipa César, Deutschland / Portugal / Frankreich / Guinea-Bissau – WP
"Streetscapes [Dialogue]" von Heinz Emigholz, Deutschland – WP
"Tamaroz" ("Simulation") von Abed Abest, Iran – WP
"El teatro de la desaparición" ("The Theatre of Disappearance") von Adrián Villar Rojas, Argentinien – WP
"Tiere" ("Animals") von Greg Zglinski, Schweiz / Österreich / Polen – WP
"Tigmi n Igren" ("House in the Fields") von Tala Hadid, Marokko / Katar – WP
"Tinselwood" von Marie Voignier, Frankreich – WP
"Werewolf" von Ashley McKenzie, Kanada – IP
"Yozora ha itsu demo saikou mitsudo no aoiro da" ("The Tokyo Night Sky Is Always the Densest Shade of Blue") von Yuya Ishii, Japan – WP
Quelle: www.berlinale.de