Das Fahrrad

DDR 1982 Spielfilm

Ein zweiter Anlauf

Margit Voss, Film und Fernsehen, Berlin/DDR, Nr. 8, 1982

Film lebt von Assoziationen, er löst solche aus. Der Titel "Das Fahrrad" weckt Erinnerungen an De Sicas nun schon klassischen Film "Fahrraddiebe". Ich will diese Anmaßung nicht vermuten, aber anmerken, daß dieser Titel noch in anderer Hinsicht ungünstig ist. Er bildet den ersten Punkt einer Linie, die über die erste Einstellung bis zum moralischen Tief der Heldin führt.

Man kann niemandem übelnehmen, wenn er mit offenem Visier ficht. Aber dann müssen sich die Qualitäten aus anderen Konstellationen ergeben, aus der Entwicklung der Charaktere, aus Gedankengängen von überraschender Tiefe oder Kühnheit, Bildern, die sich zu einmaligen Metaphern verdichten.

Als Evelyn Schmidt ihren Erstling "Seitensprung" erarbeitete, konnte sie sich auf eine Autorin (Regina Weicker) stützen, die nicht unerfahren ist in der dramatischen Arbeit. Im Stab dieses zweiten Teams ist der Autor (Ernst Wenig) absoluter Neuling. Die Unzulänglichkeiten des Films lassen sich oft auf das Buch zurückführen. Das ist kein Vorwurf, erklärt aber die Mühseligkeit des Arbeitsprozesses. Für die Regisseurin bedeutete er praktisch, zum zweiten Mal Anlauf zu nehmen. Sie arbeitete mit einem anderen Kameramann (Roland Dressel), einem anderen Produktionsleiter (Uwe Klimek). Auch Szenenbildner, Kostümbildner und Maskenbildner wechselten. Geblieben waren ihr die Dramaturgin (Erika Richter), die Schnittmeisterin (Helga Emmrich), der Musikberater (Peter Rabenalt).

Zudem gerät der Film in ein ungünstigeres Umfeld. "Seitensprung" bildete den Beginn einer Reihe von Filmen, die sich bemühten, im Verhalten ihrer Helden etwas vom moralischen Anspruch der Gesellschaft sichtbar zu machen. Der Zuschauer war noch neugierig, seine Mitmenschen auf diese Weise genauer kennenzulernen. Aber der Reiz des Neuen verflüchtigt sich schnell, wenn sich die Summe nur aus der Reihung ergibt, nicht aber in einer Verdichtung aufgehoben ist. Für den Beobachter mag es noch reizvoll sein, Filme ähnlicher Thematik zueinander in Beziehung zu stellen, eine Fundgrube dürfte das letzte DEFA-Jahr gar für den Soziologen sein. Dem Zuschauer aber kann das nicht Grund genug sein, ins Kino zu gehen. Es gibt zu wenig Ansatzpunkte zur Verallgemeinerung. Mit der Feststellung: So ist es! will er ja gar nicht entlassen werden. Anstöße zum Weiterdenken sind zu wenig vorhanden.

"Das Fahrrad" kommt noch in so enger Nachbarschaft zu Herrmann Zschoches "Bürgschaft für ein Jahr" ins Kino, daß ein Vergleich nicht ausbleiben kann. In beiden Filmen hat eine junge Frau eine erste bittere Erfahrung – eine gescheiterte Ehe – hinter sich. In beiden Filmen tragen die Heldinnen Verantwortung für ein Kind oder mehrere Kinder. Sie haben keinen Beruf. Sie sind labil. Sie sind auf der Suche. Während in Zschoches Film die Heldin in ihrem sozialen Bereich ziemlich genau erfaßt ist, darin auch die Stärke des Films liegt, ist die Susanne in Evelyn Schmidts Arbeit ungleich schwerer einzuordnen. Die Vorgeschichte der Figur wird vorenthalten. Um sie akzeptieren zu können, muß der Betrachter unverhältnismäßig viel in sie investieren, d. h. ihre mögliche Vita vervollständigen. Es ist darüber nachzudenken, mit welchen Mitteln im Film "Widrigkeiten des Lebens" ausgedrückt werden: Ein Topf mit kochender Wäsche gerät schon zur Katastrophe, eine Stanze in der Fabrik zur unzumutbaren Fessel. Normale Arbeit also bildet den Anlaß für Verzweiflungsausbrüche der Heldin. Für wie viele Zuschauer wird Alltag auf diese Weise zu unzumutbarer Bürde erklärt. Ich bin mir nicht sicher, ob damit lediglich die Heldin genauer exponiert werden soll, also ihre "Unfähigkeit" demonstriert wird, mit allen normalen Dingen fertigzuwerden. (…)

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