Reichsaußenminister Dr. Gustav Stresemann

Deutschland 1929 Kurz-Dokumentarfilm

Als Gustav Stresemann 1925 eine Tonfilmansprache hielt

von Jeanpaul Goergen

 

War es eine Notlösung oder eine abgesprochene Inszenierung? Statt bei der Eröffnung der Kino- und Photoausstellung (Kipho)  in Berlin am 25. September 1925 um 11 Uhr – wie angekündigt – persönlich aufzutreten und eine Ansprache zu halten, war Reichsaußenminister Gustav Stresemann stattdessen in einer Tonfilmaufnahme zu sehen und zu hören. Im Vortragssaal im Haus der Funkindustrie auf dem Messegelände lief auf einer großen Projektionsleinwand eine knapp anderthalbminütige Tonfilm-Aufnahme, in der er der Ausstellung seine besten Wünsche zu ihrem Verlauf ausdrückte. Passend zu dieser Leistungsschau der deutschen Filmindustrie meldete sich damit auch das deutsche Tri-Ergon-Lichttonverfahren wieder in der Öffentlichkeit zurück. Stresemann sagte: 

Quelle: Jeanpaul Goergen
Gustav Stresemann

"Der kinematographischen und photographischen Ausstellung, die am heutigen Tage eröffnet wird, spreche ich meine besten Wünsche aus zu ihrem Verlauf und für den Erfolg der Veranstaltung. Diese Ausstellung ist ein Beweis der inneren Stärke beider Industrien in schweren Zeiten deutscher wirtschaftlicher Entwicklung. Sie danken diese innere Stärke vor allem der Wahl ihrer Führer und Mitarbeiter, die es verstanden haben, die Entwicklung beider Industrien auf eine Höhe zu bringen, hier im Bezug auf die seelische Darstellung und Durchgeistigung des Films und ebenso im Bezug auf technische Möglichkeiten auf die Höhe der Leistungsfähigkeit gebracht worden ist. Dass ich heute in der Lage bin, im Bilde zu ihnen zu sprechen, ist ein lebender Beweis dieser Entwicklung und dieses Fortschritts auf diesem Gebiete. Mögen beide Industrien fortschreiten in dieser Entwicklung. Möge dies möglich sein nicht nur in der Heimat, sondern auch draußen in der Welt durch ihre Erzeugnisse ein Bild zu geben von deutscher Geistes- und Schaffenskraft und dafür zu sorgen, dass deutscher Geist und die Anerkennung deutscher Technik auch die Welt durchdringen."

Die Aufnahme mit Stresemanns Ansprache war nie für das Kino bestimmt und lag daher 1925 auch nicht der Filmzensur vor. Vermutlich war sie noch am 27. September bei zwei Vorführungen des "sprechenden Films" im Vortragssaal des Funkhauses zu sehen. (Berliner Volks-Zeitung, Nr. 458/1925) Leider gibt es hierzu keine Programme.

Das Berliner Tageblatt (Nr. 458/1925) widmete der Vorführung der Stresemann-Rede auf der Kipho einen ausführlichen Beitrag und fragte "Wann werden wir das erste 'Phono-Kino' haben?" Dem Bericht zufolge hatte die Ufa die Aufnahme hergestellt, "die die deutsche Lizenz des Verfahrens von der Tri-Ergon A.G. in Zürich übernommen hatte." Die Tri-Ergon-Erfindergemeinschaft Hans Vogt, Jo Engl und Joseph Massolle hatte in der Tat im Juli 1923 ihren gesamten Erfindungskomplex an eine in Zürich gegründete Tri-Ergon AG verkauft, konnte aber an ihrer Erfindung des Lichttons weiterarbeiten. Es entstanden offenbar neue Kurztonfilme, die auf einer Rundreise durch deutsche Kinos vorgestellt wurden. Ende Januar 1925 schloss die Ufa einen Lizenzvertrag mit der Schweizer Tri-Ergon AG, um 15 Jahre lang Tonfilme nach dem Lichttonverfahren herzustellen. Ihr erster Versuch mit einem längeren Tonfilm misslang allerdings. Der am 20. Dezember 1925 im Berliner Mozartsaal uraufgeführte Kurzspielfilm "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" (R: Guido Bagier) musste wegen technischer Probleme aus dem Programm genommen werden; die finanziell angeschlagene Ufa stellte vorerst ihre Tonfilm-Ambitionen zurück. 

Quelle: Jeanpaul Goergen
Die photographische Industrie, Nr. 38/1925

Schuld an diesem Fiasko war wohl eine überhastete und unzureichende Vorbereitung; an der Technik des Lichttons nach dem Tri-Ergon-Verfahren lag es nicht. Die deutschlandweiten Vorführungen mit Tri-Ergon-Tonfilmen im Herbst 1924 hätten bewiesen, so konstatierte das Berliner Tageblatt in seinem Bericht von der Kipho, dass mittlerweile "aus Demonstrationseinrichtungen reproduzierbare, brauchbare Apparate und Projektionsmaschinen geworden waren. Im letzten Jahre ist das gesamte Verfahren in einen Zustand gebracht worden, der dem überhaupt Erreichbaren schon sehr nahe liegt. [...] Die Schmerzenskinder der Akustiker, die Konsonanten 'f' und 's', Schallvorgänge mit mehr als 10.000 Frequenzen in der Minuten sind mikroskopisch im Phonogramm wahrnehmbar. Die Sprache hat den dumpfen Charakter verloren. [...] Der Tri-Ergon-Film, einige Millimeter breiter als der bisherige 'stumme' Film [42mm], registriert und reproduziert das Sehbare und Hörbare gleichzeitig und originalgetreu."

Ein anderer Beobachter der Vorführung auf der Kipho notierte: Stresemann "erschien auf einer weißen Leinwand, aufrecht stehend. Er sah den Hörern ins Gesicht. Er sprach mit scharfer Mundbewegung, indem er die Worte zur Lautheit presste. So konnte man mit der Sicherheit, mit der wir Redende prüfen, die vollkommene Übereinstimmung von Wort und Bild erkennen. Jeder Laut war von der ihm zukommenden Bewegung, jede Mundstellung von dem natürlichen Laut begleitet. Es war verblüffend." (Hannoverscher Kurier, Nr. 477/1925) Auch der Berichterstatter des Vorwärts (Nr. 466/1925) war begeistert: "Die Worte selbst klingen klar und laut, kein grammophonartiges Rauschen begleitet die Vorführung; im Gegenteil: selbst der typische Stresemann-Akzent ist deutlich vernehmbar."

Der Film. Stresemann steht halbnah vor der Kamera im Garten der Reichskanzlei und spricht frei in die Kamera. Die Aufnahme – sie besteht aus einer einzigen Einstellung – endet damit, dass Stresemann sich leicht verneigt und zurücktritt. Seine Ansprache wurde erstmals 1928, wenn auch nur ausschnittsweise, in dem von dem Kabarettisten Paul Graetz moderierten Tonfilm "Zehn Jahre Ton-Kino, eine tönende Jahresschau der Tri-Ergon-Musik AG Berlin" veröffentlicht.

Am 17. Januar 1929 legte dann die Tonbild-Syndikat AG (Tobis) die Aufnahme unter dem schlichten Titel "Reichsaußenminister Dr. Gustav Stresemann" der Filmzensur vor. Die 1928 gegründete Tobis umfasste auch die Tri-Ergon-Patente und dürfte so auch die Stresemann-Aufnahme übernommen haben. Laut Zulassungskarte hatte der Film eine Länge von 31 Metern, was einer Laufzeit von 1 Minute und 22 Sekunden entspricht – bei der von Tri-Ergon angelegten Aufnahme- und Vorführgeschwindigkeit von 20 Bildern pro Sekunde. Die Normierung auf 24 Bilder pro Sekunde erfolgte erste später. 

Nach dem Tod von Gustav Stresemann am 3. Oktober 1929 ließ die Tobis den Film unter dem neuen Titel "In memoriam Gustav Stresemann. Aus dem Tonbild-Archiv der Tobis" am 4. bzw. 10. Oktober erneut zensieren. Ein kurzer Vorspann erklärte die Hintergründe der Aufnahme: "Aufnahme des verstorbenen Reichsaußenministers aus dem Jahre 1925. Ansprache zur Eröffnung einer Ausstellung."

Quelle: Jeanpaul Goergen
"Gedächtnis-Platte" auf Tri-Ergon-Record

Am 10. Oktober brachte die Tobis zudem den heute verschollenen Kurztonfilm "Gustav Stresemann zum Gedenken" heraus, der neben der Stresemann-Rede noch Aufnahmen vom Trauerzug, der Totenfeier im Reichstag und eine Ansprache von Reichstagsvizepräsident Siegfried von Kardoff am Sarg des Verstorbenen enthielt. Er zeigte außerdem Reichstagspräsident Paul von Hindenburg und das diplomatische Corps im Trauerzug sowie das kurze Anhalten des Zugs vor dem Auswärtigen Amt, dem Dienstsitz Stresemanns.

Die Rede erschien kurz nach Stresemanns Ableben auch als "Gedächtnis-Platte" auf Tri-Ergon-Record (Nr. TE 5706). Der Schauspieler Hans Mühlhofer sprach einleitende Worte: "Im Gedenken an den verstorbenen großen deutschen Staatsmann, Reichsaußenminister Dr. Gustav Stresemann hören sie seine Rede anlässlich der Eröffnung der kinofotografischen Ausstellung 1925. Diese Rede wurde im Reichsaußenministerium nach dem Tri-Ergon-Verfahren als einziger Tonfilm des Entschlafenen aufgenommen."

Heute ist Gustav Stresemanns Tonfilm-Ansprache zur Kipho 1925 in einer Kopie aus dem Archiv der Filmzeitschrift Licht-Bild-Bühne überliefert – damals die bedeutendste filmwissenschaftliche Bücherei in Deutschland. Sie trägt den Vorspann: "Dokument-Film Nr. 1 der Tobis-Melofilm G.m.b.H. / Gewidmet dem Archiv der Licht-Bild-Bühne. / Gustav Stresemann ♱ / Rede zur Eröffnung der Kipho-Ausstellung 1925." Sie ist im Bundesarchiv unter dem missverständlichen Archivtitel "Stresemann-Tonfilm-Interview" archiviert.


Literatur
Die Eröffnung der Kipho. Drahtlose Begrüßungsansprache Dr. Stresemanns. In: Berliner Tageblatt, Nr. 455, 25.9.1925 
Wann werden wir das erste "Phonokino" haben? In: Berliner Tageblatt, Nr. 458, 27.9.1925
Die "Kipho" am Sonntag. In: Berliner Volks-Zeitung, Nr. 458, 27.9.1925
Im Urkino. In: Vorwärts, Nr. 466, 2.10.1925
S. J-y.: Berliner Dies und Das. In: Hannoverscher Kurier, Nr. 477, 11.10.1925
Wolfgang Mühl-Benninghaus: Das Ringen um den Tonfilm. Düsseldorf: Droste Verlag 1999

(Jeanpaul Goergen, September 2025)

Rechtsstatus