Berlinale Forum 2018: Im Reich der Perfektion – und anderswo

Zum 48. Mal veranstaltet das Arsenal – Institut für Film und Videokunst im Rahmen der Berlinale das Forum. Das Hauptprogramm umfasst in diesem Jahr 44 Filme, darunter 35 Weltpremieren.

Die diesjährigen Special Screenings werden in einer weiteren Pressemitteilung bekannt gegeben.

21 Jahre nach seinem Regiedebüt "The Day a Pig Fell into the Well" kehrt der koreanische Regisseur Hong Sangsoo ins Forum zurück. "Grass" ist eine heiter-melancholische Geschichte über Gäste eines kleinen Cafés, dessen Inhaber die klassische Musik liebt. Kim Minhee, die 2017 den Silbernen Bären für die Beste Darstellerin gewann, spielt hier die Frau am Ecktisch mit dem Laptop, die sich vom Geschehen inspirieren lässt, die Fäden der Dialoge aufnimmt und weiterspinnt, manchmal aktiv ins Geschehen eingreift. Oder ist sie selbst die Autorin der Beziehungsminiaturen, deren Geschichten und Themen einander spiegeln?

Auch die französische Regisseurin Claire Simon sucht in ihren dokumentarischen Arbeiten stets das Neue, das Experiment. Mit Schülerinnen und Schülern aus einem Pariser Vorort hat sie in ihrem neuen Film "Premières solitudes" ("Young Solitude") einen kinematografischen Raum für das offene, intime Gespräch geschaffen. Im Dialog über ihre Herkunft, Elternbeziehungen, Verliebtheiten, Sehnsüchte und Zukunftsängste kommen sich zehn gewöhnliche Teenager näher. Es tut gut festzustellen, dass man nicht allein ist.

Zum ersten Mal ist der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa mit einem Film auf der Berlinale vertreten. In "Den' Pobedy" ("Victory Day") beobachtet er die riesige Menschenmenge, die sich alljährlich am 9. Mai am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow versammelt, und registriert präzise das Treiben zwischen Stolz und Nachdenklichkeit, Patriotismus, Geltungsbedürfnis und Schaulust.

In zwei Filmen des diesjährigen Programms verleihen Regisseurinnen Videomaterial, das sie während politischer Umbrüche drehten, neue Bedeutsamkeit. Kristina Konrad sammelte Ende der 1980er Jahre auf den Straßen Uruguays Stimmen zum Volksentscheid über ein Gesetz, das den Verantwortlichen der Militärdiktatur Straffreiheit garantierte. "Unas preguntas" ("One or Two Questions") betrachtet einen demokratischen Prozess unter dem Brennglas.

Etwa zur gleichen Zeit sorgte die Affäre um die NS-Vergangenheit des ehemaligen UN-Generalsekretärs und Bundespräsidenten von Österreich, Kurt Waldheim, weltweit für Aufsehen. Ruth Beckermann montiert mit "Waldheims Walzer" einen dokumentarischen Essay von erschreckender Aktualität.

Auch Julien Faraut arbeitet in seinem Film "L'empire de la perfection" ("In the Realm of Perfection") mit Material, das weitgehend in den 80ern entstand. Der vom Tennissport faszinierte Regisseur Gil de Kermadec versuchte damals, das Spiel mit filmischen Mitteln zu analysieren. Seine akribischen Aufnahmen der Matches von John McEnroe während der French Open bilden hier Anlass für einen ironischen Blick auf die Parallelen von Film und Spiel: Das Kino lügt, nicht aber der Sport.

Einen ebenso kuriosen Blick auf den Ballsport wirft Corneliu Porumboius "Fotbal Infinit" ("Infinite Football"). Er zeigt die abstrusen Anstrengungen eines Beamten in der rumänischen Provinz, der Welt eine Verbesserung des schönen Spiels zu hinterlassen. Aber dreht sich hier wirklich alles um Fußball?

Zwei US-amerikanische Spielfilme beleuchten intellektuellen Eskapismus. Ted Fendts im 16mm-Format in Philadelphia gedrehter zweiter Spielfilm "Classical Period" ist eine verschroben-melancholische Geschichte über Intellektualität und Einsamkeit. In einer Lesegruppe tauscht man sich eifrig über kulturgeschichtliche Referenzen aus: ein Versuch der modernen Welt zu entfliehen oder sich selbst?

In einem ähnlichen Milieu spielt Ricky D’Ambroses in Brooklyn entstandenes Debüt "Notes On an Appearance". Vor dem Hintergrund von Unruhen, die von einem dubiosen Philosophen ausgelöst werden, erzählt er mittels echter Dokumente und fiktiver Hinterlassenschaften von einem jungen Mann, der schon bald verschwindet. Ein unheimlicher Blick auf modernes Leben mit dystopischen Untertönen.

Josephine Deckers "Madeline's Madeline" hingegen stürzt sich kopfüber in die Analogien von Kreativität und Wahnsinn. Mit ihrer Mutter, dargestellt von der Künstlerin Miranda July, verbringt die jugendliche Heldin ungern Zeit, frei fühlt sie sich vor allem in ihrer Theatergruppe. Doch wo liegt die Grenze zwischen Rolle und Persönlichkeit?

Zwei Spielfilme aus Marokko beleuchten Geschlechterverhältnisse. "Jahilya" von Hicham Lasri (der Titel spielt auf die vorislamische "Zeit der Unwissenheit" an) ist eine wütende Abrechnung mit einer frauenfeindlichen marokkanischen Gesellschaft, der er nur Niedertracht attestiert.

Narjiss Nejjars "Apatride" ("Stateless") erzählt aus weiblicher Perspektive von einem historischen Ereignis, das noch heute die Beziehung zwischen Marokko und Algerien bestimmt. In berückenden Bildern zeigt ihr Spielfilm eine sanfte, aber bestimmte Frau, die die Grenze zwischen den beiden Ländern zu überwinden sucht.

Das elektrisierende Regiedebüt "An Elephant Sitting Still" würde man gern als große Hoffnung des chinesischen Erzählkinos bezeichnen. Doch sein 29-jähriger Regisseur Ho Bu, der zuvor mit zwei Romanen Aufsehen erregt hatte, nahm sich nach Vollendung des Films das Leben. Virtuos verknüpft das bildgewaltige vierstündige Werk die Lebensläufe einer Vielzahl von Protagonisten, um einen einzigen spannungsgeladenen Tag vom Morgengrauen bis zum Abend in Szene zu setzen und dabei das Porträt einer von Egoismus geprägten Gesellschaft zu zeichnen.

Die Filme des 48. Forums
"14 Apples von Midi Z", Taiwan / Myanmar – WP
"Afrique, la pensée en mouvement Part I" von Jean-Pierre Bekolo, Senegal – IP
"Aggregat" von Marie Wilke, Deutschland – WP
"Amiko" von Yoko Yamanaka, Japan – IP
"Apatride" ("Stateless") von Narjiss Nejjar, Marokko – WP
"Aufbruch" von Ludwig Wüst, Österreich – WP
"La cama" ("The Bed") von Mónica Lairana, Argentinien / Deutschland / Niederlande / Brasilien – WP
"La casa lobo" ("The Wolf House") von Joaquín Cociña, Cristóbal León, Chile – WP
"Casanovagen" von Luise Donschen, Deutschland – WP
"Classical Period" von Ted Fendt, USA – WP
"Con el viento" ("Facing the Wind") von Meritxell Colell Aparicio, Spanien / Frankreich / Argentinien – WP
"Los débiles" ("The Weak Ones") von Raúl Rico, Eduardo Giralt Brun, Mexiko – WP
"Den' Pobedy" ("Victory Day") von Sergei Loznitsa, Deutschland – WP
"Die Tomorrow" von Nawapol Thamrongrattanarit, Thailand – IP
"Djamilia" ("Jamila") von Aminatou Echard, Frankreich – WP
"Drvo" ("The Tree") von André Gil Mata, Portugal / Bosnien und Herzegowina – WP
"An Elephant Sitting Still" von Hu Bo, Volksrepublik China – WP
"L'empire de la perfection" ("In the Realm of Perfection") von Julien Faraut, Frankreich – WP
"Fotbal Infinit" ("Infinite Football") von Corneliu Porumboiu, Rumänien – WP
"Grass" von Hong Sangsoo, Republik Korea – WP
"The Green Fog" von Guy Maddin, Evan Johnson, Galen Johnson, USA/Kanada
Vorfilm: "Accidence" von Guy Maddin, Evan Johnson, Galen Johnson, Kanada – WP
"Interchange" von Brian M. Cassidy, Melanie Shatzky, Kanada – WP
"Jahilya" von Hicham Lasri, Marokko – WP
"Kaotični život Nade Kadić" ("The Chaotic Life of Nada Kadić") von Marta Hernaiz, Mexiko / Bosnien und Herzegowina – WP
"Last Child" von Shin Dong-seok, Republik Korea – IP
"Madeline's Madeline" von Josephine Decker, USA – IP
"Maki'la" von Machérie Ekwa Bahango, Demokratische Republik Kongo / Frankreich – WP
"Mariphasa" von Sandro Aguilar, Portugal – WP
"Minatomachi" ("Inland Sea") von Kazuhiro Soda, Japan / USA – WP
"Notes On an Appearance" von Ricky D'Ambrose, USA – WP
"Old Love" von Park Kiyong, Republik Korea – IP
"Our House" von Yui Kiyohara, Japan – IP
"Our Madness" von João Viana, Mosambik / Guinea-Bissau / Katar / Portugal / Frankreich – WP
"Premières armes" ("First Stripes") von Jean-François Caissy, Kanada – WP
"Premières solitudes" ("Young Solitude") von Claire Simon, Frankreich – WP
"SPK Komplex" von Gerd Kroske, Deutschland – WP
"Syn" ("The Son") von Alexander Abaturov, Frankreich / Russische Föderation – WP
"Teatro de guerra" ("Theatre of War") von Lola Arias, Argentinien / Spanien – WP
"Tuzdan Kaide" ("The Pillar of Salt") von Burak Çevik, Türkei – WP
"Unas preguntas" ("One or Two Questions") von Kristina Konrad, Deutschland / Uruguay – WP
"Waldheims Walzer" von Ruth Beckermann, Österreich – WP
"Wieża. Jasny dzień." ("Tower. A Bright Day.") von Jagoda Szelc, Polen – IP
"Wild Relatives" von Jumana Manna, Deutschland / Libanon / Norwegen – WP
"Yours in Sisterhood" von Irene Lusztig, USA – WP

Quelle: berlinale.de