Es wäre gut, daß ein Mensch würde umbracht für das Volk


P. H., film-dienst, Nr. 24, 26.11.1991

Hugo Niebelings filmische Umsetzung der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach ist ein außergewöhnliches Projekt. Im deutschen Kinofilm hat es seit Jahrzehnten keinen ähnlich anspruchsvollen Versuch einer Darstellung der Passionsgeschichte gegeben. Niebeling, der für seine Dokumentar- und Ballettfilme zwischen 1957 und 1974 viermal den Bundesfilmpreis erhielt, weicht von der üblichen konzertanten Aufführungspraxis ab und inszeniert Bachs Johannes-Passion im Speyrer Dom als Musikdrama, in dem der eigentliche Handlungskern, die Konfrontation Jesu mit Pilatus, durch die kommentierenden und meditierenden Gesangspartien des Chors und Einzelarien nach Art einer antiken Tragödie ergänzt wird. Die musikalische Basis des Films bildet die bekannte Interpretation von Karl Richter, die 1964 mit dem Münchner Bach-Chor und -Orchester aufgenommen wurde. Neben der Bach‘schen Musik bildet die grandiose Architektur des Speyrer Doms ein wesentliches Wirkungselement des Films. Aus der Kombination von Musik, Architektur, Schauspiel und Tanz versucht Niebeling ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, und sein Ansatz ist in vieler Hinsicht überzeugend. Die gesungenen Rezitative und Dialogpassagen, dazu die packenden rhythmischen Ausbrüche in den Volkschören legen eine dramatische Umsetzung geradezu zwingend nahe. Die erzählte Handlung umfaßt in der Bach‘schen Vorlage im wesentlichen die Kapitel 18 und 19 des Johannes-Evangeliums, sie beginnt mit der Verhaftung Jesu und endet mit der Grablegung und dem Ausblick auf die Auferstehung. Im Film wird dieser Handlungskern durch weitere Szenen aus den Evangelien wie die Vertreibung der Wechsler aus dem Tempel oder neu erfundene Szenen wie ein Fest, das Pilatus mit seinen Freunden feiert, erweitert. Neben der in Rezitativen und Dialogpassagen vermittelten Handlung finden sich in der Vorlage aber auch lange Barock-Arien und Choräle, die als Meditationen über das Leiden Christi oder als Ausdruck innig empfundener Frömmigkeit ihren Stellenwert gewinnen und musikalische Höhepunkte darstellen, einer filmischen Umsetzung aber nicht entgegenkommen. Niebeling präsentiert hier Sänger und Chor in wechselnden Tableaus, wobei die Choreografie unterstützt wird durch eine gezielte Farbdramaturgie und Lichtregie, die den Raum gut zur Geltung bringen. Indem Niebeling eng an der Partitur zu bleiben versucht, ergeben sich aber auch Probleme. Die Orientierung der Schnitt-Technik an der Musik geht beispielsweise nicht immer auf. Schnelle Reißschwenks, die den wechselnden Gesangseinsatz der einzelnen Gruppen innerhalb des Chores markieren sollen, wirken eher unangemessen hektisch als unterstützend. Ein anderes Beispiel macht das Prinzip und die Problematik der Inszenierung im Hinblick auf die Umsetzung der kommentierenden Arien deutlich: den Weg Jesu nach Golgatha begleitet die Baßarie, die inhaltlich eine mehrfach wiederholte Aufforderung an die verlorenen Seelen, nach Golgatha zu eilen, enthält. Niebeling setzt dies direkt in Szene, indem er weiß gekleidete Tänzer in vollem Lauf kreuz und quer durch das Kirchenschiff eilen läßt. So ergibt sich allenfalls eine dekorative Wirkung, aber keine Vertiefung der Musik oder des gesungenen Textes. Niebeling ordnet sich zwar dem Bach‘schen Meisterwerk deutlich unter, aber er strebt eine Aktualisierung an. Dem Pseudo-Realismus der Hollywood-Bibelfilme wird eine eindeutige Absage erteilt.

Zu den ersten Takten der Bach‘schen Musik sieht man die Schauspieler auf den Straßen Speyers, wie sie zum Dom eilen und sich allmählich in die Rollen verwandeln, die sie in dem geistlichen Schauspiel übernehmen. Wenn der Christus-Darsteller in der Garderobe sitzt und eine Perücke probiert, um dem Bild Christi, wie es im Turiner Grabtuch überliefert ist, nahezukommen, erkennt er sehr schnell „Das bin ich nicht!“ und spielt die Rolle dann konsequent ohne Maske und Perücke. So wird das Jesus-Bild auf den ersten Blick geradezu revolutionär. Dem traditionellen Bild des langhaarigen schönen Jünglings, dem selbst ambitionierte Filme wie die von Pasolini („Das erste Evangelium Matthäus") oder Arcand („Jesus von Montreal") noch gefolgt sind, stellt Niebeling einen Jesus gegenüber, der ohne jeden Zug einer heldenhaften Verklärung ein ganz normaler Alltagsmensch ist, ein Mann im besten Alter, mit Glatze und Bartstoppeln, ein Mann, der sanft, aber auch bestimmt sein kann und den ihm vorgezeichneten Weg ohne inneren Zweifel geht. Dank Christoph Quests intensiver Darstellung gewinnt die Figur Jesu eine eindringliche Aktualität und bewegende Momente, auch wenn die Darstellung im Verlauf der Handlung dann doch den traditionellen Bild-Erwartungen entspricht. Deutlich schwächer kommt Klaus Barner als Pilatus zur Geltung, was jedoch Niebelings Rolleninterpretation entspricht. Sein Pilatus ist ein Beamtentyp, ein Schreibtischtäter, der die Tauglichkeit der Folterwerkzeuge penibel prüft, aber für die zerschundenen Körper der Opfer kaum einen Blick hat. Vollkommen gegen den Strich besetzt ist die Rolle des Petrus, den der auf Schlägertypen abonnierte Ralf Richter als Tatmenschen darstelllt, den die Ohnmacht angesichts der Verhaftung Jesu innerlich zerreißt. Eine neue Dimension eröffnet Niebeling auch in der Deutung der Rolle des Volkes. Der Chor, der in einer Szene als gläubige Gemeinde erscheint, wird in der nächsten zum Pöbel, was allein durch Masken verdeutlicht wird. Selbst der Evangelist erscheint mit einer Maske beim gegeißelten Jesus. Von Schuld ist niemand frei, auch wir nicht, lautet die Botschaft.

Niebeling zeigt eine höchst beachtenswerte künstlerische Leistung, wobei man bei der Bewertung der erkennbaren Schwächen des Films, die vor allem im letzten Teil nach der Kreuzigung sichtbar werden, dem Künstler zugute halten muß, daß er seine Ziele hoch gesteckt hat. Der Film kann durchaus nicht nur bei Bach-Kennern, sondern auch bei einem breiteren Publikum seine Wirkung entfalten, selbst wenn er den Erwartungen der vorwiegend jugendlichen Kinogänger kaum entsprechenn wird.

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