"Der Fall Gleiwitz" – ein faszinierender DEFA-Film

Rosemarie Rehahn, Wochenpost, Berlin/DDR, 16.9.1961

Anderthalb Stunden, 2500 Filmmeter lang, hätte man eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. So still war es. Eine angespannte Stille, wie man sie selten im Kino erlebt.

Das spricht für den Film, natürlich. Doch in diesem Falle im gleichen Maße fürs Publikum. "Der Fall Gleiwitz" verlangt den denkenden, den mitdenkenden Zuschauer. Daß er ihn findet, mag nicht zuletzt am Zeitpunkt liegen. Mancher hat in den letzten Wochen angefangen nachzudenken über Wahrheit und Lüge, über Schein und Sein – über Krieg und Frieden. Ein Film, der nachweist, wie der Weltkrieg Nr. 2 provoziert wurde, findet heute, wo wir an den Grenzen der DDR die Provokation für Nr. 3 in Schach halten, ein in besonderer Weise aufgeschlossenes Publikum.

Im Herbst 1939 begann der zweite Weltkrieg. Programmgemäß. Polnische Freischärler hatten angeblich den damaligen "Reichssender" Gleiwitz überfallen. (…) Die Autoren des Films, Wolfgang Kohlhaase und Günther Rücker, der Regisseur Gerhard Klein entschieden sich dafür, das Ganze um einer höchstmöglichen Wahrhaftigkeit willen dokumentarisch streng zu erzählen. Der Film legt den Mechanismus bloß, vom ersten Druck auf den Klingelknopf bis zu jenem Toten am Eingang des Gleiwitzer Senders, der der erste Tote des zweiten Weltkrieges ist – der erste von 43 000 000. Eine Anatomie des Völkermordes gewissermaßen. (…)

Der Film ist von selten erlebter künstlerischer Dichte, von einer inneren Gespanntheit vom ersten bis zum letzten Bild. Wobei man das Wort Bild oder, genauer, den Namen des tschechoslowakischen Kameramannes - Jan Curik gesperrt drucken muß. Ein Höhepunkt filmischer Gestaltung ist der singende Militärzug, dessen frenetisches "Jowijowidihahaha" in ein unheilvolles Keuchen der Räder übergeht und schließlich wie Todesröcheln verklingt. Und vor der Bahnschranke das andere Deutschland: Gefesselt, die Augen verbunden, der unbekannte Antifaschist, dessen Name schon auf der Lagerliste in Sachsenhausen ausgelöscht ist, noch, bevor sie sein Leben in Gleiwitz auslöschen werden. Ein Wittern des Kopfes, die gefesselten Hände ballen sich. Hinter der schwarzen Augenbinde sieht der Mann, was die Sorglosigkeit, die Bequemlichkeit, die Feigheit im Land ringsumher nicht sehen will: Krieg. Eine erschütternde, kraftvolle Darstellung von Hilmar Thate, stumm durch den ganzen Film und dennoch ein Alarmschrei, ähnlich der stummen Kathrin bei Brecht.

Eine schauspielerische Spitzenleistung Hannjo Hasses Naujocks: genau jene beklemmende Mischung aus blonder Bestie und geltungsbedürftigem Kleinbürger, wie sie z. B. wieder vor den Berliner Sektorengrenzen randaliert. Daneben Herwart Grosse, ein SS-Oberbonze vom Glitzern des Machtrausches im Auge bis zur unvollkommen einstudierten Feldherrngeste – Präzisionsarbeit. Geniale Präzisionsarbeit, Energieleistung sondergleichen die Regie Gerhard Kleins, vom winzigen filmischen Detail bis zum Spannungsbogen des Ganzen.

Gemeinsam mit "Professor Mamlock" wurde "Der Fall Gleiwitz" beim Moskauer Festival zu einem glänzenden Sieg unserer Filmkunst. Beide Filmwerke errangen jetzt bei den Festspielen in Edinburgh einen neuen überragenden Erfolg. (…)

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