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Im Dokumentarfilm "Step Across the Border" über den Multi-Instrumentalisten Fred Frith antwortet die freie Montage und die Beobachtungsgabe des Direct Cinema auf die improvisierte Musik seines Protagonisten. Das Filmteam versteht sich ebenso wie die Musiker einer Band als Kollektiv, das gemeinsam am spontanen künstlerischen Ausdruck arbeitet. Über zwei Jahre Drehzeit in Japan, Europa sowie den USA fangen sie Konzertmitschnitte, Interviews und den Alltag unterwegs ein und verbinden sie zu einer rhythmischen Klangreise.
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Der 2019 in New York verstorbene litauisch-amerikanische Filmregisseur Jonas Mekas stellt, kaum hat sich Fred Frith auf einer nicht näher gezeigten Unterlage im Sonnenschein gerekelt und einige Songs kurz angesummt, den 1972 vom US-Meteorologen Edward N. Lorenz publizierten Schmetterlingseffekt vor: „Wenn ein Schmetterling irgendwo in China im Wind flattert, beeinflusst das alles andere auf der Welt. Dieses kleine Flattern ist mit allem anderen auf der Welt verbunden. Jede kleinste Aktion, so unbedeutend und unsichtbar sie auch sein mag, ist von diesem Flügelschlag beeinflusst.“
Damit wird die Methodik dieses 90-minütigen Films deutlich, der am 27. September 1990 in den Kinos startete und am 22. Oktober 2000 im hr-Fernsehen des Hessischen Rundfunks erstausgestrahlt wurde: das Prinzip der aus dem Free Jazz stammenden freien musikalischen Assoziation wird auf das Medium Film übertragen, sowohl handwerklich als auch ästhetisch.
Zwischen 1987 und 1990 ist ein kleines Filmteam Fred Frith und seinen Mitstreitern wie Joey Baron, Tim Hodgkinson und Lawrence Wright nach Japan, in die USA und quer durch Europa gefolgt. Nicht nur zu spontanen Sessions und großen Konzerten, sondern auch zu Proben, in Restaurants oder die Trommelmanufaktur von Daihachi Oguchi und Familie. Es geht naturgemäß um Musik, wobei sich Frith keinen Illusionen hingibt, dass (seine) Musik die Welt verändern könnte. Aber auch um die Ansichten zum Verhältnis von Kunst und Gesellschaft so unterschiedlicher Charaktere wie des sowjetischen Filmemachers Andrei Arsenjewitsch Tarkowski oder des französischen Fotografen und „Magnum“-Gründers Henri Cartier-Bresson.
Gesprochen wird wenig, erklärt nichts, aber aufschlussreich gezeigt, das Probieren zu zweit, das Improvisieren auf bayerischen Bierfässern zu dritt oder Privates vom Einkaufen über das Spiel mit dem Kind mit der Rassel bis hin zur Geburtstagstorte. Selbst auf Schalen verteilte asiatische Snacks können im wahren Wortsinn instrumentalisiert werden. Durchgängiges Motiv ist die Bewegung, das Reisen, mit statischer Kamera am Flussufer, am Schienenstrang oder auf den Autoverkehr aus der Vogelperspektive. Oder mit subjektiver Kamera aus dem Zugfenster heraus. Einmal knattert sogar ein Trabi durchs Bild.
Am Ende philosophiert der 2019 in Kanada verstorbene Robert Frank, ein schweizerisch-amerikanischer Fotograf und Filmemacher deutsch-jüdischer Herkunft, an der Tür eines fahrenden Vorortzuges über das Reisen in permanenter, gegenwärtiger Bewegung. „Step Across the Border“ ist also viel mehr als ein Musikfilm – und für die, die sich auf ihn einlassen, ein Ereignis. Auch und gerade 35 Jahre nach der Uraufführung.
Nicolas Humbert und Werner Penzel im Rapid Eye Movies-Presseheft: „In ‚Step Across the Border‘ werden zwei künstlerische Ausdrucksformen, improvisierte Musik und Kinoregie, miteinander verknüpft. In beiden Formen zählt der Augenblick, das intuitive Gespür für das, was in einem Raum geschieht. Musik und Film entstehen aus einer intensiven Wahrnehmung des Augenblicks, nicht aus der Umsetzung eines vorher festgelegten Plans. Bei der Improvisation offenbart sich der Plan erst am Ende. Man findet ihn. Die andere Verbindung betrifft die Arbeitsweise: das Filmteam als Band. So wie Musiker über die Musik kommunizieren, wurde auch unsere Arbeit in einem sehr kleinen, flexiblen Team von Gleichgestellten realisiert. Es ging um Austausch. und Bewegung. Manchmal begannen wir mitten in der Nacht mit dem Filmen als Reaktion auf eine neue Idee, die erst Minuten zuvor aufgekommen war. Wir hatten ein grundlegendes Gefühl dafür, was wir machen wollten, was für ein Film das werden sollte. Und diesem Gefühl sind wir gefolgt. Es war alles sehr instinktiv.“
Pitt Herrmann