Leipzig im Herbst

DDR 1989 Dokumentarfilm

Inhalt

Ausgehend von den Leipziger Montagsdemonstrationen im Oktober 1989 schildert die Dokumentation als Teil von Voigts ′Leipzig-Reihe′ den gesellschaftlichen Umbruch in der DDR unmittelbar vor dem Fall der Mauer. Dabei äußern sich in Gesprächen Demonstranten, Arbeiter, Vertreter der Bürgerbewegung ′Neues Forum′, Theologen, Volkspolizisten und ihre Vorgesetzten, Häftlinge und Staatsfunktionäre zu den Vorgängen in jenen Tagen. In diesem Zusammenhang werden auch die gewalttätigen Übergriffe der Sicherheitskräfte und der Leipziger Polizei rekonstruiert.

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Heinz17herne
Heinz17herne
In den entscheidenden Tagen der „Wende“ hat sich die Gruppe document des Defa-Studios für Dokumentarfilme erst spät dazu durchgerungen, ohne konkreten Auftrag der Studioleitung und ohne festes Drehbuch drei Teams zu den demonstrierenden Bürgern zu schicken – nach Berlin, Dresden und Leipzig. Von den Anfängen der Montagsdemonstrationen in Plauen hatte man bei der Defa gar nichts mitbekommen, als in der sächsischen Metropole das Kind schon in den Brunnen gefallen war: Übergriffe und Provokationen auf beiden Seiten der gar nicht errichteten Barrikaden.

Elf Stunden Film ist auf klassischem 35 mm-Material gedreht worden in den drei DDR-Metropolen. Nach dem Schnitt bei der Defa blieben drei Filme mit einer Länge von 26 Minuten (Dresden), 53 Minuten (Leipzig) und 65 Minuten (Berlin) übrig.

Nach Leipzig fuhren der erfahrene Regisseur Andreas Voigt, der Kameramann Sebastian Richter und Gerd Kroske, der als Dramaturg u.a. mit Thomas Heise, Jürgen Böttcher und Petra Tschörtner zusammengearbeitet hatte und mit „Leipzig im Herbst“ sein (Ko-) Regiedebüt feierte. Nach der Uraufführung am 24. November 1989 beim Leipziger Dokumentarfestival wurde er zusammen mit seinen Mitstreitern gleich mit der „Goldenen Taube“ geehrt. „Ein Material“ lautet der im Texttafel-Vorspann genannte programmatische Untertitel: reine Dokumentation ohne kommentierende Texte aus dem Off.

„Leipzig im Herbst“ beginnt mit der zweiten Montagsdemonstration. Während es bei der ersten, von der es nur dem Westfernsehen zugespielte Bilder vom Turm der Nikolaikirche gibt, bei skandiertem Protest ohne Plakate oder Spruchbänder blieb, waren die Forderungen bei der zweiten schon sehr klar formuliert: Freie Wahlen, freie Meinungsäußerung, Presse- und Reisefreiheit. „Die haben uns vierzig Jahre verarscht“ lautet der Tenor bei den O-Tönen. Aber auch dies: Bananen im Sortiment und Reiseziele im kapitalistischen Ausland wären schön, aber nicht so notwendig wie die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Von inhaltsleeren Parolen haben die Bürger der DDR die Nase voll, die einen echten Dialog mit den Politikern fordern und skandieren: „Wo ist unser Bürgermeister?“

Während der Stadtrat T. Ulrich behauptet: „Die Massenmedien der BRD haben die Leute aufgestachelt“, was zumindest für Dresden und das nur „Tal der Ahnungslosen“ genannte westfernsehfreie Umland ja nicht zutreffen kann, sammelt die Müll-Brigade in der Nacht Transparente und Plakate ein. Nach ihren Gefühlen befragt, machen die Arbeiter A. Oelsch und H. Radny aus ihrem Herzen keine Mördergrube: Sie hätten die Spruchbänder an den Wänden gelassen.

Offene Worte auch im Volkseigenen Betrieb Gisag: Die SED hat die DDR „in Grund und Boden gewirtschaftet“ und muss ihren alleinigen Machtanspruch aufgeben. Partei, Gewerkschaften und staatliche Organe haben kollektiv versagt, die Gewerkschaft ist nur der verlängerte Arm der Partei und muss endlich eine Organisation zur Vertretung der Arbeiterinteressen werden. Nur die Kirche hat sich für die Interessen der Bürger eingesetzt. Deutliche Worte findet auch der Arbeiter G. Steinbach: Die Leistung des Einzelnen zählt nichts, Mitgliedschaft in der SED und Armeedienst – dann läuft alles von allein. Er ist jetzt ins Neue Forum eingetreten, damit sich endlich etwas bewegt. Und: Den Sozialismus abschaffen will keiner, ihn verbessern jeder.

Beim noch nicht offiziell anerkannten Neuen Forum wird improvisiert und kontrovers diskutiert: Ausreisen? Bleiben? Reformieren? Ein Anhörungsrecht beim „Runden Tisch“ ersetze nicht einen Dialog auf Augenhöhe, zu dem die SED bisher nicht bereit ist. „Wir sind das Volk“ skandieren die Demonstranten, deren Zahl von Woche zu Woche wächst. Aber es wird auch die „Internationale“ gesungen und damit ein Bekenntnis zum sozialistischen Deutschland abgelegt. Was besonders junge Wehrpflichtige beeindruckt, die von ihren Offizieren ein anderes Bild der Demonstranten vorgesetzt bekamen: alles arbeitsscheue Ausreisewillige. Sie berichten offen von brutalen Übergriffen der Volkspolizei. Und Superintendent Dr. F. Marius spricht in der Nikolaikirche von „geradezu triebhafter“ Polizeigewalt Anfang Oktober, die mit Fotos dokumentiert wurde.

Die „Zugeführten“ R. Böhme und U. Meiselbach berichten, dass sie über Nacht in Pferdeboxen gesperrt wurden, was offenbar von langer Hand vorbereitet war: Montags lag der Schlüssel für die Ställe beim Betriebsschutz. VP-Oberstleutnant Schröder und J. Pommert, SED-Sekretär für Agitation und Propaganda, halten dagegen: Die Größenordnung der Montagsdemonstrationen in Leipzig war für die Ordnungsbehörden absolutes Neuland. Während die Leipziger Volkszeitung davon spricht, „die Konterrevolution mit Gewalt zu beenden“, versuchen Prominente wie Kurt Masur vom Gewandhausorchester, mit der Politik und der Polizei deeskalierend zu verhandeln.

Als am 9. Oktober 300.000 Leipziger auf der Straße sind, kapituliert die Staatsmacht vor der Gewalt des Faktischen. Neun Tage später tritt Erich Honecker zurück und Egon Krentz wird zum Nachfolger ernannt. 250.000 DDR-Bürger haben das Land bis zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen, ein Aderlass, der am 9. November zur allgemeinen Grenzöffnung führt. Als Hans Modrow Mitte November zum Ministerpräsidenten gewählt wird, ist die DDR bereits Geschichte: „Wir sind ein Volk!“

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Länge:
1461 m, 54 min
Format:
35mm
Bild/Ton:
s/w, Ton
Aufführung:

Uraufführung (DD): 24.11.1989, Leipzig, IFF;
Aufführung (DE): 10.02.1990, Berlin, IFF - Forum, Delphi-Palast

Titel

  • Originaltitel (DD) Leipzig im Herbst
  • Arbeitstitel (DD) Aktuelles Leipzig
  • Weiterer Titel Leipzig in Fall

Fassungen

Original

Länge:
1461 m, 54 min
Format:
35mm
Bild/Ton:
s/w, Ton
Aufführung:

Uraufführung (DD): 24.11.1989, Leipzig, IFF;
Aufführung (DE): 10.02.1990, Berlin, IFF - Forum, Delphi-Palast

Auszeichnungen

32. Internationales Dokumentarfilmfestival Leipzig 1989
  • Preis der internationalen Jury "Taube '89"