Die papierene Brücke

Österreich 1987 Dokumentarfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
Vom Dachboden ihres Elternhauses blickt Ruth Beckermann auf die Straßen Wiens. Fiaker machen den Autos die Fahrbahn streitig. Plötzlich fährt ein altertümlicher Panjewagen auf nebliger Straße, wird von einem Auto überholt: Der erste von zahllosen weiteren nahtlosen Übergängen der Zeitebenen (Kamera: Nurith Aviv, Schnitt: Gertraud Luschützky). Eine Tramfahrt auf der Ringstraße, vorbei an Universität, Rathaus und Parlament, scheint direkt in eine Kürschnerei im Norden Rumäniens zu führen.

Die 1952 in Wien geborene Dr. phil. Ruth Beckermann studierte Publizistik und Kunstgeschichte in ihrer Heimatstadt sowie in Tel Aviv, nach der Promotion Fotografie in New York. Die Journalistin gründete 1978 in Wien den Verleih „Filmladen“ mit angeschlossenem Kino und gilt heute als die renommierteste österreichische Dokumentaristin.

In „Die papierene Brücke“, der Titel entstammt einer alten ostjüdischen Geschichte, begibt sie sich – ausgerechnet im Winter - auf die Reise zu den Wurzeln ihrer Familie in die Bukowina, genau genommen in den heute rumänischen südlichen Teil. Die heute zur Ukraine gehörende einstige Hauptstadt Czernowitz, in der ihr Vater Salo Beckermann geboren wurde und bis zum Überfall der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg ein Bekleidungsgeschäft betrieb, hat sie im Gegensatz zu ihrem deutschen Kollegen Volker Koepp nicht erreicht.

In der Bukowina, östliches Grenzland des Habsburgerreiches, lebten bis zu Hitlers Vernichtungsfeldzug Rumänen, Schwaben genannte Deutsche, Juden und Ukrainer ohne große Differenzen neben- und miteinander, wie Salo Beckermann erzählt. Gab es Probleme, halfen sich Katholiken und Juden gegenseitig, die führenden Kirchenmänner eingeschlossen. Heute gibt es nur noch karge Rudimente des einstigen regen jüdischen Lebens, die Auswanderung vor allem nach Israel und in die USA ist das Hauptthema der Gemeinden: die Hebräisch-Lehrerin hat nur noch zwei Schüler.

Besagter Kürschner ist der Vorbeter der Gemeinde, zu der Rabbi Wassermann alle zwei Wochen kommt, um Geflügel zu schächten oder in festlichem Rahmen das Lichterfest Chanukka zu begehen. Während die Mikwe zum rituellen Tauchbad schon viele Jahre verwaist ist, wird das Dampfbad der jüdischen Gemeinde regelmäßig von den Bäuerinnen der Umgebung genutzt. Herbert Gropper führt Ruth Beckermann, die Tochter zweier Shoah-Überlebender, auf den jüdischen Friedhof zum als Mahnung kunstvoll gestalteten Grabstein eines Zahntechnikers, der sich 1937 wohl aufgrund von Spielschulden erschoss: Selbstmörder werden wie bei den Christen im Abseits bestattet.

Salo Beckermann hat in der Roten Armee überlebt, seine Gattin Betty, eine gebürtige Wienerin, in Palästina. Nur aus Liebe ist sie Ende der 1940er Jahre wieder nach Wien zurückgekehrt: „Ich habe ein ganz neues Leben begonnen, als wenn ich hier nicht geboren wurde.“ Auch für Salo Beckermann, der im historischen Textilviertel rund um den Rudolfsplatz wieder ein Bekleidungsgeschäft unterhält, ist Wien nicht wirklich Heimat. Mit dem Herzen bleibt er Czernowitzer – und hat das Bildnis des von seinem Vater verehrten kakanischen Kaisers Franz mit nach Wien genommen.

Im slawonischen Osijek, heute die viertgrößte Stadt Kroatiens, hat eine amerikanische Produktion für einen Fernsehfilm das KZ Theresienstadt nachgebaut und vierzig jüdische Komparsen aus Wien nach Jugoslawien geholt. Die in den Drehpausen kontrovers über die Möglichkeiten jüdischen Widerstands im Dritten Reich diskutieren. Menachem Golan, ein Jüngerer in der Gruppe: „Ich geh nicht ins Gas, ich sterbe von Kugel.“ Leicht gesagt – hinterher.

Zurück in Wien. Aus dem Fenster des Konzertcafes Prückl am Stubenring blickt man auf das Denkmal des antisemitischen Bürgermeisters Karl Lueger (1844-1910). Salo Beckermann weiß, dass der Schoß noch fruchtbar ist – und muss sich auf einer Demonstration gegen den Bundespräsidenten-Kandidaten Kurt Waldheim auf offener Straße als Jude beschimpfen lassen. Mit einer Tramfahrt in Gegenrichtung und ausgebreiteten Familienfotos auf dem Dachboden endet nach 95 Minuten eine sehr essayistisch-persönliche Dokumentation, die am 1. März 1987 beim 17. Int. Forum des jungen Films auf der Berlinale uraufgeführt wurde, am 10. April 1987 in die österreichischen Kinos kam und am 18. Oktober 1988 im ZDF erstausgestrahlt worden ist.

Die auf 16mm gedrehte Filmladen-Produktion (PL Josef Aichholzer) ist ein früher Beleg für die Bemühungen der zweiten Generation der Shoah-Überlebenden, die häufig nicht erzählte Familiengeschichte für sich selbst aufzuarbeiten. „Jüdische Kinder im Wien der Fünfziger Jahre. Jedes Kind ein Wunder“ kommentiert Ruth Beckermann ein Foto, das bei der Feier ihres dritten Geburtstages aufgenommen wurde. Von Wien, wo ihre Großmutter den Krieg überlebte, indem sie sich stumm stellte, führt ihre Reise auch nach Tel Aviv: friedliche Strand- und Kaffeehaus-Szenen aus einem Land, dass ihrer Mutter Betty Beckermann zur vermissten Heimat geworden ist.

Die naturgemäß elegische Grundstimmung zur Musik von Arvo Pärt wird nicht nur durch häufig lakonische Kommentare der Filmemacherin aus dem Off durchbrochen, deren Wienerisch gefärbter Tonfall sanft und bestimmt zugleich ist, sondern auch durch die heitere Gelassenheit und frappante Offenheit ihrer Gesprächspartner: „Filmiert bin ich ja nun unsterblich“ konstatiert ein sichtlich zufriedener Herbert Gropper bei seiner Führung über den jüdischen Friedhof.

Bei „Die papierene Brücke“ (1987) handelt es sich um den Mittelteil einer Filmtrilogie, die 1983 mit „Wien retour“ begann und 1990 mit „Nach Jerusalem“ schloss. Ruth Beckermanns erste eigene Regiearbeit sei ihr „persönlichster Film“, so die ltd. Kuratorin des Kinos Arsenal der Deutschen Kinemathek Berlin, Birgit Kohler, bei einer Vorführung Mitte März 2022 im Filmmuseum Potsdam. Er ist 1988 zweimal ausgezeichnet worden: in Wien mit dem „Würdigungspreis für Filmkunst“ des Österreichischen Bundeskanzleramtes und in Bludenz mit dem Dokumentarfilmpreis des österreichischen Filmfestivals Alpinale.

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Länge:
95 min

Titel

  • Originaltitel (DE) Die papierene Brücke

Fassungen

Original

Länge:
95 min