Verführung

Charlie Chaplin lächelt uns keck aus dem Spiegel entgegen: Brigitte (Marie Gruber), die als Kosmetikerin davon träumt, sich selbständig zu machen, und die Buchbinderin Christiane (Ute Lubosch), zwei bis zur Selbstüberheblichkeit attraktive, verwöhnte junge Frauen, kümmern sich bei einer Flasche Krimsekt um die Dritte im Bunde, das Aschenputtel Ramona (Silke Matthias).

Die erst 18-Jährige ist Näherin bei Rewatex und übernimmt neben ihren Schichten noch zwei Jobs in Privathaushalten, um ihrem kleinen Sohn Sebastian (Thilo Ulm) etwas bieten zu können. Den hat sie als Minderjährige geboren, weshalb er bei ihrer Mutter (Lissy Tempelhof) lebt. Nur ab und zu darf sie Sebastian abholen, um mit ihm gemeinsam etwas zu unternehmen, Ausnahmen duldet die Kindergartenleiterin Schöne (Gudrun Brückner) nicht.

Ramona Richter putzt in der vergleichsweise luxuriös ausgestatteten Wohnung Brigitte Liebenaus, deren Gatte als Bauleiter unter der Woche auswärtig auf Montage arbeitet. Sie hat ihr frustrierendes, weil auch nach ihrer Volljährigkeit komplett von der strengen Mutter abhängiges Leben satt, zumal sie hier einen extravaganten Lebensstil kennenlernt, der in Defa-Produktionen gewöhnlich als westlich-dekadent gebrandmarkt wird.

„Jeder ist verführbar, um den Jungen zu kriegen, macht die alles“: Nachdem Christiane mit einem Dietrich die Wohnungstür des Pensionistenpaares Krause (Ilse Voigt und Mario Turra) aufgebrochen hat, entwendet sie zielgerichtet eine Kassette aus der Anrichte. Deren Nachbarin (Trude Brentina) wird später zu Protokoll geben, ihr sei im Treppenhaus eine alte, humpelnde Frau begegnet, die als Diebin in Frage kommt.

Ramona ahnt nichts, als sie beim nächsten Treffen in feucht-fröhlicher Runde besagte Kassette öffnen soll, die sie sofort als Eigentum der Krauses, bei denen sie seit Jahren putzt, erkennt. Mitgehangen, mitgefangen: 400 Mark in bar befinden sich darin und zwei Sparbücher mit einem Guthaben von zusammen 41.000 Mark. Um an das Geld zu kommen, hecken die beiden Freundinnen einen perfiden Plan aus, bei dem Ramona der Part einer Taschendiebin zugedacht ist.

„Damit will ich nichts zu tun haben“, wehrt Ramona zunächst ab, lässt sich dann aber doch verführen – geht mit der ersten Kohle in eine Disco und wird so erfolgreich von einem jungen Mann (Peer-Uwe Teska) angebaggert, dass sie glatt vergisst, ihren Sohn vom Kindergarten abzuholen. Kann man es der stets gedemütigten lebenslustigen Frau verdenken, einmal aus dem Alltagstrott ausbrechen zu wollen? Andererseits: Wer 500 Mark verdient und nur 25 Mark für die Betriebswohnung zahlen muss, sollte mit seinem Geld auskommen. Überdies besteht die Möglichkeit, nach dem Facharbeiter-Abschluss in eine höhere Lohngruppe aufzusteigen.

„Verführung“ von Jürgen Sasse (Buch) und Peter Hagen (Regie) nach einem Szenarium von Regina Weicker lässt immer wieder Sympathie für die chaotische, mit ihrem Leben nicht zurechtkommende Arbeiterin durchblicken, die Täterin und Opfer zugleich ist. Ausgerechnet der Cousine ihrer Rewatex-Meisterin Müller (Margot Busse), die sich beinahe wie eine Mutter um ihr Sorgenkind kümmert, hat Ramona die Handtasche geraubt, um an Papiere zu kommen, die Christiane fälscht, um an das Sparbuch-Geld der Krauses zu kommen. Irene Poller (auch Marie Gruber), die Brigitte zum Verwechseln ähnlich sieht, war im Treppenhaus gestürzt und erlitt eine Fehlgeburt.

Der erste Abhebungsversuch von 15.000 Mark mit dem gestohlenen Ausweis hat geklappt, Ramona setzt ihren Anteil sogleich in Bekleidung und Spielsachen für Sebastian um. Nun aber sind Hauptmann Peter Fuchs (Peter Borgelt) und Oberleutnant Jürgen Hübner (Jürgen Frohriep) auf der richtigen Spur – und die führt zu Ramona…

Die „Polizeiruf 110“-Folge „Verführung“, eine Auftragsproduktion der Defa (PL Erich Albrecht), ist vom 20. Juli bis 7. November 1984 in Berlin und Potsdam gedreht und am 11. August 1985 im Fernsehen der DDR erstausgestrahlt worden. Das im Abspann zu hörende „Ramonalied“ von Karin Kersten wird von Conny Strauch gesungen.

Pitt Herrmann