18.15 Uhr ab Ostkreuz

Deutschland 2005/2006 Spielfilm

18.15 Uhr ab Ostkreuz


Jörg Gerle, film-dienst, Nr. 07, 2006

Margret Rutherford alias Miss Jane Marple ist eine Ikone des Camp. Das für ihr beachtliches Alter erstaunlich forsche Auftreten, das zu keiner Zeit angeberisch wirkende Tausendsassatum, das allumfassende, aus Volkshochschulkursen, Frauenzeitschriften, Kriminalromanen und Chemiebaukästen angeeignete Wissen, die Schrulligkeit und muffige Zeitlosigkeit ihrer Abenteuer hat sie dazu gemacht. Es ist fast erstaunlich, dass die schwule Filmszene um Jörn Hartmann erst jetzt zu einer Hommage an diesen weiblichen Superhelden der frühen 1960er-Jahre ausgeholt hat. Hartmann, der mit kleinem Budget, einem Hauch von Drehbuch und einem Ensemble bewusst untalentierter Schauspieler in der Szene einen gewissen Kultstatus genießt, gelingt nach "Mutti – der Film" (fd 35 874) mit "18.15 Uhr ab Ostkreuz" ein kaum bedeutenderer Wurf.

Ades Zabel verkörpert nach Mutti nun mit Karin Höhne (quasi die Marple Berlins) erneut die Hauptrolle; eine gewisse Unverwechselbarkeit ist mit Hartmanns zweitem Langfilm also bereits signalisiert. In altmütterlichem Fifties-Outfit und nicht ganz perfekt frisierter Mireille-Mathieu-Perücke schickt "sie" sich an, Morde aufzuklären, die ihr keiner glaubt. Auf dem Weg zum Kaffeekränzchen ihrer Freundin Rosa Brathuhn beobachtet Karin in einer parallel fahrenden S-Bahn einen grauenhaften Axtmord. Scotland-Yard-Austauschinspektor Rock Milchester hält die Zeugin für debil und schenkt die Anzeige der pensionierten Berlin-Haselhorster Grundschullehrerin keine Beachtung. Für die resolute Endfünfzigerin ist das Ansporn genug, zusammen mit ihrer Freundin selbst ermittlerisch tätig zu werden.

Eine Spur am Bahndamm führt Frau Höhne zum angesehenen Friseursalon des Wilmersdorfer Starcoiffeurs Horst Brüller. Geschickt lässt sich die Hobby-Detektivin als auszubildendes Mädchen für alles engagieren und erlebt in dem nur oberflächlich glamourösen Salon ihr blaues Wunder: Von der Auszubildenden Hürryet Lachman über Finanzmanager Bruno bis zur dominanten Chefin Fräulein Drache scheint jeder eine Leiche im Keller zu haben. Angelehnt an den Titelpaten "16 Uhr 50 ab Paddington" (fd 10 864), spinnt das muntere Ensemble eine liebevolle Farce über Mord und Totschlag, die in einschlägigen Tuntentheatern zur Karnevalszeit wahrscheinlich Blockbuster-Potenzial entfaltet. Andere Zielgruppen zu anderen Jahreszeiten dürfte das bedingungslose Wohlgefallen schon etwas schwerer fallen.

Dennoch besitzt "18.15 Uhr ab Ostkreuz" Qualitäten über den Camp-Faktor (Kostüme, Perücken und Make-up sind wahrlich exzeptionell) hinaus. An erster Stelle wäre die Schwarz-weiß-Kamera von Torsten Falk zu nennen, der trotz No-Budget ein Marplesches Krimi-Flair in die unmissverständlich unsägliche Posse zaubert. Ades Zabel schafft es hier und da, die eigentlich unnachahmliche Rutherfordsche Mimik zu imitieren, und der klassische Showdown mit der wort- und wendungsreichen Auflösung des Verbrechens in Gegenwart aller Verdächtigen hätte einem zweitklassigen Buch von Agatha Christie zur Ehre gereicht. War "Mutti – Der Film" noch eher anstrengend, ist "18.15 Uhr ab Ostkreuz" ein Fortschritt in Richtung B-Picture.

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