Rangierer

DDR 1984 Kurz-Dokumentarfilm

Rangierer



Rolf Richter, Film und Fernsehen, Nr. 5, 1991


"Rangierer" ist ein symbolischer Film, der ohne Symbole auskommt. Der Blick auf den Alltag eines Rangierbahnhofs setzt ein Weltbild frei. Es enthält den Kindertraum von der intakten Erde, als stünde man am Ausgangspunkt zu allen Wegen, als befinde man sich in einem Sinnzentrum, wo die Dinge in richtiger Weise gelenkt werden. Das Funktionieren der Operationen wird sichtbar, als ob extra für uns das Dach eines Hauses abgedeckt worden wäre, damit wir eine wunderbare Symmetrie und Formung, einleuchtende Bewegungen in überschaubarer Geschwindigkeit beobachten können. Wir werden von der Begreifbarkeit nostalgisch verführt. Dabei ist man sogar geneigt, eine Zeitlang zu vergessen, daß der Regisseur das Zentrum, das die Signale gibt, ausläßt und übersieht, vielleicht auch, daß das Gewirr der Gleise etwas Labyrinthisches hat. Dann aber drängen sich diese Gedanken doch vor, und der Betrachter gesteht sich ein – es ist das Jahr 1984 –, wie sehr die Ferne für ihn eingesperrt ist. In dem großen beständigen Traum nach draußen ist die Ferne zugleich anwesend und ausgeschlossen, ein für die DDR charakteristisches, die Psychologie konstituierendes Gefühl. Die Träume bezogen sich nicht nur auf geographische Räume, sondern auch auf die vergeblich herbeigesehnte Landschaft der Utopie. Je mehr die Schienen des Rangierbahnhofes Weite erinnerten und die umgruppierten Züge in alle Richtungen geschickt wurden, um so dichter zog sich das Bild für den Betrachter zusammen und wurde zu seinem subjektiven Labyrinth. Er blieb ohne Ausbruchschance, Beobachter. Die wirkliche Bewegung gab es nur für die Maschinen.

Ging man mit der Kamera näher heran, erblickte man Arbeiter bei einer enorm präzis ausgeführten Beschäftigung. Sie dirigierten mit einer bezwingenden Sachlichkeit die Wagen. Da vollzog sich ein Ritual, das keine Fehler zuließ. Ein falscher Schritt wäre möglicherweise lebensgefährlich. Deshalb waren auch die Leute aufeinander angewiesen und untereinander meist wortlos solidarisch. Sie schwiegen, oder wenn sie sprachen, war das mehr eine Fortsetzung der Gesten, die Richtungen angaben und Anweisungen vermittelten. Alles, was sie taten, war von einer besonderen Eleganz, auch das körperlich Schwere geschah mit der Lässigkeit, mit der Tänzer eines klassischen Balletts ihre Übungen vollführen, nur daß sie nicht künstliche Bewegungen zeigten. Ihre Handgriffe waren ihnen zur eigenen Natur geworden, wenn auch Teil einer geplanten Inszenierung. (…)



Über der Erinnerung an unsere damalige Befindlichkeit wollen wir nicht die poetische Gerechtigkeit der Filmemacher vergessen, schon gar nicht, daß es ihnen ja wirklich – und nicht nur nebenbei – darum ging, die Arbeits- und Arbeitererfahrungen der Rangierer festzuhalten, ihren Alltag zu bewahren und weiterzugeben. Der Respekt vor diesen Leuten ist zu spüren, und in ihrer Sachlichkeit und Präzision bekommen die Vernunft und die Fähigkeit des Menschen zu effektivem Handeln eine Chance. Vielleicht gelten die Anstrengungen einer schon antiquierten Art der Produktion, aber es ist eben auch noch notwendige Arbeit. Ganz sicher geht es um ein Dokument, und die Faszination der Filmemacher angesichts dieser grafischen Strukturen, dieses Zusammenklangs der Bewegungen der Menschen und der Dinge, der Geräusche, ja der Gerüche dieser Landschaft Rangierbahnhof teilt sich mit, und ohne die Realität zu beschneiden oder Informationen über sie zu vermindern, entwickelt sich eine Stimmung von Widerstand und Aufbegehren, von Infragestellen und Beunruhigung, und der Film über Rangierer enthält auch das Abbild einer bestimmten geschichtlichen Situation, die für die DDR – und sicher nicht nur sie – charakteristisch war. Zuschauer, die das nicht so empfinden wollen oder können, finden dennoch erstaunlich fotografierte und in einem stimmigen Rhythmus verbundene Bilder eines Arbeitsalltags, wo der Mensch noch sichtbar Lenker der Maschinen ist, und nähern sich auf diese Weise einem Stück unserer, ihrer Geschichte.

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