Das Jahr 1945

DDR 1984/1985 Dokumentarfilm

Erinnern ist nachdenken


Klaus Wischnewski, Die Weltbühne, Berlin/DDR, Nr. 14, 2.4.1985

Irgendwann im Oktober kam ein Anruf von Karl Gass: "Wir machen einen Film über 1945; Kriegsende, Befreiung, Anfang. Wir brauchen einen Text- und Kommentarautor. Alle Termine sind vorgezogen…" (…)

Es gibt viele Gründe, sich an 1945 zu erinnern. Die ganz persönlichen – für die, die inzwischen schon oder bald "Sechziger" sind – sind nicht die unwichtigsten. Kaum ein anderes Datum hat so nachhaltig bewiesen, wie sehr Geschichte und Biographie, Politik und Privatschicksal voneinander abhängen und einander bedingen. Zu viele Deutsche brauchten zu lange, ehe sie diesen Zusammenhang begreifen lernten – bis zu jenen Monaten, in denen mit den Mauern ihrer Städte und der Macht der Nazis auch ihre Illusionen und ihre Weltvorstellungen zusammenbrachen. (…)

128 Tage Krieg sind auf den endlosen Filmmetern festgehalten. Die meisten nunmehr auf deutschem Boden. In Deutschland wird in diesen 128 Tagen mehr zerstört als im ganzen Krieg: Die Angreifer leiden als letzte, aber gründlich.

Die Zuschauer wollen wissen, "wie es wirklich war"; vor allem die jüngeren. Wir müssen, soweit das überhaupt geht, dieser nur zu verständlichen legitimen Forderung entsprechen. Karl Gass" Konzeption war von Anfang an: Von den Menschen berichten, ihr Leben, Sterben, Vegetieren sichtbar und fühlbar machen, die Härte der Kämpfe (Shukow: "Die Erbitterung nahm auf beiden Seiten zu"), die weniger in massenhafter Technik als im Gesicht des Soldaten zu begreifen ist; Wahnsinn des sinnlos von den Nazis und einem apathisch oder fanatisch funktionierenden Volk verlängerten Krieges: jene Szene, wo ein Rotarmist einen Wehrmachtsoldaten aus einem Kanalloch hervorholt und beide im gleichen Augenblick sich hinwerfen, einander mitziehend, deckend gegen Salven von irgendwoher…
Ein Film um 1945 kann nur ein Film für den Frieden sein. Und ein Film gegen die antikommunistischen Lügen und die antisowjetische Hetze, die damals den Krieg in Gang hielten und heute, in Worten, Begriffen und Gefühlen nahezu identisch, zu neuem Krieg bereit machen sollen. Es konnte kein Film werden, der deutsches Selbstmitleid pflegt, das in die politische Manipulation westlicher Medien frisch und reichlich integriert wird. Es mußte hingegen ein Film werden, der den Geist der Antihitlerkoalition beschwört und bewußt macht, die, wie in Jalta im Februar 1945 bekräftigt wird, "in Krieg und Frieden" für das Schicksal der Völker verantwortlich sein sollte. Es ist schon erschreckend, 1985 die Losungen der Nazi-Presse gegen die Konferenz von Jalta zu lesen und gewisse heutige Reden vom Rhein und vom Potomac im Ohr zu haben…

Wir suchten nicht optische Beweismittel für Thesen und Texte, die wir fertig hatten. Die Wirklichkeit der Bilder hat den Prozeß bestimmt, der zur schließlichen Formung und Komposition führte.
Aus acht, sechs, vier Stunden Material, immer neu und anders in Kapitel geteilt, entstand ein Film von neunzig Minuten. Die Arbeit war ein ständiger Dialog mit den Bildern, Prüfen der eigenen Erinnerungen und Assoziationen und der Wirkungen auf die jüngeren Mitarbeiter der Gruppe und deren Reaktionen. (Was zum Beispiel löst die Wiederbegegnung oder die absolute Erstbegegnung mit einer Nazi-Rede aus den letzten Kriegstagen aus?)
Es folgt der Dialog mit dem Zuschauer: Erinnern an 1945 mündet zwangsläufig in Nachdenken über unser Leben seitdem, über die DDR und den anderen deutschen Staat, über die Welt heute, über Krieg und Frieden – darüber, was uns möglich und was notwendig ist.

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