Berlin. Die Sinfonie der Großstadt

Deutschland 1927 Dokumentarfilm

Berlin. Die Sinfonie der Großstadt



Willy Haas, Film-Kurier, Nr. 226, 24.9.1927

(…) Hier ist endlich einmal etwas geschehen; und nehmen wir nur das Primitivste von all"dem, was hier geschehen ist, so ist"s schon lobenswert: der entschlossene Bruch mit dem Spielfilm, mit dem Schauspieler- und Schauspielerregisseurfilm. Das resolute, couragierte Sich-Stellen auf die eigentlich filmischen Prinzipien: Bildfolge, Bildlänge, Bildeinstellung, Prinzip des Vorübergleitens (statt der falschen Geometrie des Dramas) –: organisch begründet im Vorübergleiten des Filmstreifens am Zuschauer.

Doch hier ist freilich auch schon die erste Gefahr, der dieser Film nicht ganz entgangen ist: die Gefahr der subjektiven Willkür, des bildmusikalischen Impressionismus. Der Hochmut des Schöpfers, das Unkonstruktive, Unprinzipielle; die Überspannung des Aberglaubens vom schöpferischen Chaos, die später dann in Exzentrik oder leere Verfeierung mündet; und von der wir fühlen, daß sie in unsere Zeit nicht mehr ganz gehört.

Sicherlich: der Spielfilm ist eine schiefe, erborgte Sache. Aber er hat doch den Sinn einer fingierten Hilfskonstruktion. Er stellt Forderungen, die ins Gebiet des Filmischen hinüberreichen; und gibt gleichzeitig das Material, an welchem das Maß des Filmisch-Geglückten exakt zu demonstrieren und zu messen ist. Er gibt klar umrissene filmische Aufgaben, an die sich der Filmschöpfer halten muß, und an denen sich Grad und Maß seiner filmischen Begabung unzweideutig offenbart.

In diesem Film hat sich der Filmschöpfer Ruttmann keine Aufgabe stellen lassen, sondern er hat aus dem filmischen Material frei geschöpft. Wie ist eine solche Leistung zu messen? Offenbar daran, ob er mit vollen Händen geschöpft hat. Wir wünschen keine Übertragung dramatisch-theatralischer Möglichkeiten auf den Film der Zukunft; aber wir wünschen auch keine Übertragung der symphonisch-musikalischen Möglichkeiten, keinen Wagnerianismus des Films der Zukunft. Was immer kommen soll: es muß streng und organisch aus den technischen Gegebenheiten der Filmphotographie selbst wachsen. Vor jeder weitergehenden Forderung steht die Forderung: daß die Mittel dem Schöpfer restlos gefügig waren, daß er ganz frei mit allen äußersten technischen Möglichkeiten geschaltet, aus allen äußersten Verwendungsmöglichkeiten geschaffen hat.

Welches sind die Möglichkeiten? Die der photographischen Einstellungen und Tricks. Zweitens: die der Bild-Antithesen. Drittens: die der großen, packenden Bild-Berichterstattung, der schlagenden, hinreißenden Lebensreportage.

Von diesen drei Forderungen ist hier vieles verwirklicht; aber man hat nicht unbedingt das zwingende Gefühl einer vollkommenen Verwirklichung. Der ganz außerordentliche Gesamteindruck ist, im höchsten Sinn, doch durch eine Art Kompromiß erreicht: in dem Ruttmann von einer Möglichkeit immer wieder zur anderen schwankt, eine durch die andere stützen läßt, in dem er schwimmt, in jenem etwas unbestimmten Fahrwasser schwimmt, das man "Filmrhythmus" nennt, und das schon wieder in ein dem Film disparates Gebiet, das der Musik, hinüberweist. Musikalisch, in einem ganz bestimmten Sinn musikalisch, ist der Film konzipiert. Aber wenn wir Filmkritiker endlich einmal Schluß damit machen wollen, verkappte Theaterkritiker zu sein, so sind wir ebensowenig bereit, verkappte Musikkritiker zu werden. Wir fühlen, wo das Filmische auf den Nagel getroffen ist. Wir fühlen, daß auch in diesem Film, der natürlich konzeptionell turmhoch über anderen Filmen steht, da und dort ein bißchen gemogelt und nicht sehr oft mit der göttlichen Nüchternheit des Genies das einzig Wahre, einzig Schlagende, das was sich eben in Worten nicht aussprechen läßt, einfach und ohne Umstände ausgesprochen wird.

Ruttmann ist ein wenig Amateur. Das ist heute das höchste Lob: er hat sich von allem eingefressenen Métier-Aberglauben ferngehalten. Er kann sehr viel. Aber er muß weiterschaffen, weiterlernen, bis man fühlt: er kann alles, was ein Mensch im Film können kann.

Denn wir alle, auch Ruttmann, wollen doch eine Zeit, in der es kein Lob mehr ist, ein großer Amateur zu sein – sondern ein großer Fachmann; ohne atavistische Hemmungen. (…)

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