Die Brüder Schellenberg

Deutschland 1925/1926 Spielfilm

Die Brüder Schellenberg



Siegfried Kracauer, Frankfurter Zeitung (Stadt-Blatt), 2.5.1926


Dieser neue Großfilm der Ufa, den die Ufa-Lichtspiele zeigen, ist ein einziger Kampf des Regisseurs mit dem Stoff. Karl Grune, dem man einen der schönsten deutschen Filme: "Die Straße", dankt, hat an dem Kellermannschen Roman einen Vorwurf gefunden, der, wie reich immer er an packenden Szenen und Figuren des heutigen Lebens sei, doch nur der Sphäre des mittleren Unterhaltungsromans [angehört, die] in die des echten Films sich nur schwer übersetzen läßt. Eine geschlossene Handlung mit seelischen Konflikten treibt an die Oberfläche empor, die mit Tatsächlichkeiten reich durchsetzt wird; aber – und das ist wesentlich – die Bilder der Oberfläche haben den seelischen Ereignissen gegenüber kein Eigenrecht. Grune hat durch mannigfache Abänderungen des Textes versucht, dem Film zu geben, was des Filmes ist. Vor allem ist es sein Bemühen gewesen, das Psychologische möglichst zu tilgen und die inneren Zusammenhänge hinter der Fülle der Einzelbilder verschwinden zu lassen. So entsteht eine Reihe wirksamer Bilder: der große Börsentag, Ausschnitte aus dem Pariser Hotel, das Schiebercafe.



Aber aus dem Zwang des Stoffes heraus sind diese Szenen so realistisch geraten, daß andere, die eine dem Film entsprechende phantastische Auflösung der vorhandenen Wirklichkeit darstellen wollen, nicht recht zu ihnen passen. Der Traum des jungen Wenzel Schellenberg von künftigem Reichtum etwa, in sich zu folgerichtig komponiert, durchbricht hart und willkürlich die Schildereien des normalen Alltagslebens. Auch die allzu deutlich gestellten Großstadt-Phantasmagorien gehen mit den unwahren Straßenstücken und Interieurs nicht zusammen. Nur in einigen auf Licht- und Schatteneffekten gestellten Aufnahmen eigentlich bewährt Grune diesmal seine Meisterschaft. Ein Bild zumal prägt sich ein: der nächtliche Abflug eines Aeroplans; die Scheinwerfer erzeugen auf dem dunklen Gelände horizontale weiße Lichtstreifen, die ornamental auf- und abwogen und vergehen. Von solchen wunderschönen Einzelheiten abgesehen ist aber der Regisseur immer wieder in dem Stoff verstrickt, dessen Gewalt ihn dort hinlenkt, wo er vielleicht nicht hinkommen will. Man hat einen guten Abschluß angebaut und derart die unzulässigen poetischen Ambitionen Kellermanns auf ihr Mindestmaß eingeschränkt; doch sind immer noch zu viele dichterische Ansprüche geblieben, die von dem Roman nicht erfüllt werden und in dem Bereich des Films fehl am Orte sind. – Beherrscht wird die Szene von Conrad Veidt, der in der Doppelrolle der Brüder Schellenberg sich selber des öfteren gegenübersteht. Er ist sowohl als fanatischer Weltverbesserer wie als Nachkriegs-Emporkömmling überzeugend. In der Wahnsinns-Szene nach der Erwürgung Esthers, in der übrigens die Kerzenlichter gut mitspielen, entwickelt er starke suggestive Kräfte. Lil Dagover als Esther gibt dem blasierten Großstadtmädchen den Ausdruck innerer Zersetztheit und die vollendete Künstlichkeit der Gebärde. Ihre Mienen wissen das Furchtbare der Verlorenheit zu treffen, jede Bewegung der schmiegsamen Gestalt ist aufreizend bewußt. Für die Qualität der schauspielerischen Leistungen bürgen im übrigen die Namen Liane Haid, Wilhelm Bendow, Erich Kaiser-Titz, Paul Morgan, Frieda Richard; ein Starensemble, auch Bruno Kastner wirkt mit. Aber das Schauspielerische allein entscheidet noch nicht über den Wert eines Films.

Siegfried Kracauer: Werke. Band 6. Kleine Schriften zum Film. Herausgegeben von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. 3 Teilbände. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Alle Rechte vorbehalten. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

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