Mädchen in Uniform

Deutschland 1931 Spielfilm

Revolte im Mädchenstift

Ein guter deutscher Film!



Siegfried Kracauer, Frankfurter Zeitung, Nr. 892-894, 1.12.1931


Inmitten des Wustes der Militärfilme und der ganzen, rein auf Zerstreuung abgestellten Produktion, mit der die Konsumenten von der Filmindustrie mit oder gegen ihren Willen beliefert werden, tauchen endlich vereinzelte gute deutsche Filme auf. Dem Pabst-Film: "Kamaradschaft", der viel zu kurz lief, ist jetzt im Capitol der Film: "Mädchen in Uniform" gefolgt. Eine in doppelter Hinsicht erfreuliche Leistung. Einmal darum, weil sie von Geschmack und Anstand zeugt, die bei uns rar geworden sind; zum anderen darum, weil sie eine Gemeinschaftsarbeit ist. Die Deutsche Film-Gemeinschaft, die unter der künstlerischen Oberleitung von Carl Froelich steht, erbringt mit diesem ihrem ersten Kollektiv-Unternehmen den Beweis, daß es noch andere Methoden der Herstellung von Filmen gibt als die der herrschenden Filmindustrie. Und in dem Beifall, der während der Uraufführung immer wieder spontan einsetzte, schwang zweifellos auch die Genugtuung des Publikums über den hier vollzogenen Durchbruch mit.

Der Film ist nach dem Bühnenstück "Gestern und Heute" von Christa Winsloe unter Mitwirkung der Autorin gedreht worden. Sein Thema: die Erziehungsmethoden in einem Stift für adlige Mädchen, die "Soldatenkinder" sind und wieder "Soldatenmütter" werden sollen. Aus den Zustandsschilderungen, die einen Begriff von der furchtbaren Härte der im Internat praktizierten Pädagogik geben, entwickelt sich der Konflikt zwischen dem alten und dem neuen Geist. Jenen, der konservativen Maximen entspringt und uneingestandenem Sadismus bereitwillig Vorschub gewährt, vertritt die Oberin und ihr Anhang, diesen eine der Lehrerinnen, die mit Verständnis und Liebe mehr ausrichten zu können glaubt als mit militärischem Drill. An sie schließen sich aus Instinkt alle Mädchen an, besonders eines, das zu ihr eine schwärmerische Zuneigung faßt. Die von der Pubertätsleidenschaft geförderte Beziehung, die mit stiller Resignation zurückgedämmt wird, kommt zu Ohren der Oberin, deren drakonische Maßnahmen den Bruch mit der Lehrerin herbeiführen und das Mädchen zum Selbstmord treiben. Nur das Eingreifen der endlich aufsässigen Kinder vermag im letzten Augenblick noch die doppelte Katastrophe zu verhindern.

Frau Leontine Sagan hat diese saubere Handlung sauber inszeniert. Zum Lob ihrer handwerklich sicheren Regieleistung wüßte ich nichts Besseres zu sagen, als daß sie ein genaues Wissen um die Ausdrucksformen und ein feines Stilempfinden verrät. Während der Routinier ein solches Sujet bestimmt zur groben Karikatur verzerrt hätte, überschreitet Frau Sagan nirgends die von der Wirklichkeit gezogenen Grenzen. Die Oberin bleibt eine mögliche Figur, und das Exerzierreglement, dem die Zöglinge unterworfen sind, ist auch in seinen Ausschweifungen noch glaubhaft. Es muß nicht leicht gewesen sein, der Farce zu entrinnen; denn viele Episoden, so das Intermezzo der Andacht und der Besuch einer Königlichen Hoheit, fordern zu ihr heraus.



Aber die Regie trifft immer scharf die Kontur und erreicht durch die plastische Ausarbeitung aller Gestalten, was die zweidimensionale Satire niemals bewirkte: eine Preisgabe dieses Mädchenstiftswesens, die zugleich seine Kennzeichnung ist. Aufgerollt wird es in lose aneinandergereihten Szenen, die voller reizender filmischer Einfälle sind. Der Alltag im Stift und die Potsdamer Architektur interpretieren sich wechselseitig, die große Schultreppe erhält das ihr zukommende Eigenleben, die Theaterepisode ist exemplarisch entwickelt und die Mischung der komischen Auftritte mit den ernsten und tragischen delikat. Sieht man wie billig von einigen Längen und jenen paar Szenen ab, die wie die Lehrerinnenkonferenz aus dem Gesamtrahmen ein wenig herausfallen, so bleibt ein vorzüglich abgestimmtes Arrangement, das auch tonfilmisch gut durchdacht ist. Seiner Präzision ist die Durchschlagskraft gerade der kleinen Züge zu danken. Der langsame Abgang der Oberin am Schluß etwa kommt zu ergreifender Geltung, und wenn sie, von den Ereignissen entthront, in den Korridor schwindet, scheint ein Gespenst von hinnen zu weichen.

Das Frauenensemble besteht aus Schauspielerinnen und unzünftigen Mädchen. Welch ein Glück, wieder einmal unbekannte Gesichter zu sehen statt der hergebrachten Darsteller und Publikumslieblinge, die in jeder Rolle dieselben bleiben. Und noch eine andere Art der Zufriedenheit darf in dem Film ausgekostet werden: daß seine Mädchen keine schablonierten Girls sind, sondern richtige Mädchen. Vielleicht ist die Girlzeit jetzt auch auf der Leinwand vorbei, nachdem sie im Leben längst abgewirtschaftet hat. Aus der Mädchengruppe, die sich wunderschön und wie zwanglos zusammenfindet, ragt die Trägerin der Hauptrolle, Hertha Thiele, hervor. Sie kann ungekünstelt lachen und weinen und hat zwei Augen, die etwas zu sagen wissen – kurzum, das Mädchen besitzt die Anwartschaft darauf, durch eine glänzende Zukunft verdorben zu werden. Neben ihr Ellen Schwanneke, schon versierter im Spiel: ein charmantes Gemisch aus Befangenheit, Wärme und Impertinenz. Dorothea, Wieck gibt der geliebten Lehrerin Schönheit und Trauer. Großartig die von Emilie Unda geschaffene Figur der Oberin. Wie sie, aufs Haar der Alte Fritz, mit dem Krückstock die Parade über die Mädchen abnimmt, böse durch die Gänge wandelt und mit einem Blick Schrecken entfacht: das sind Kabinettstücke der Charakterologie. Die gesamte Darstellung wird durch eine geschickte Photographie unterstützt, die jede Nuance herausholt, ohne sie unnötig zu unterstreichen.

Dem Film ist ein großer Erfolg zu wünschen. Nicht nur seiner Haltung und Ausführung wegen, sondern auch deshalb, weil er in produktionstechnischer Hinsicht einen verheißungsvollen Anfang bedeutet. Er ist ein Zeichen dafür, daß sich noch gute Kräfte bei uns regen.

Siegfried Kracauer: Werke. Band 6. Kleine Schriften zum Film. Herausgegeben von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. 3 Teilbände. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Alle Rechte vorbehalten. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

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