Novalis - Die blaue Blume

Deutschland 1993 Spielfilm

Deutsche Dichter in der Stunde der Abrechnung. Herwig Kipping dreht seinen "Novalis"-Film


Merten Worthmann, Berliner Zeitung, 18.3.1993


Über allen thront der Tod. Braut und Bräutigam blicken zu ihm auf, die zwei Elternpaare, und auch die weitere Familie. Der Tod hat ein Festtagsgewand aus purpurner Seide angelegt. Gleich wird er die Liebenden einander vermählen. Jetzt grinst er nur und sagt: „Ich kann mir vorstellen, daß euch kalt ist. Mir ist warm."

Reiner Heise, der Todes-Darsteller, steht genau dort, wo im Sommer 1936 das olympische Feuer brannte – in der Feuerschale des Berliner Olympiastadions. Um ihn herum züngeln ein paar Flammen, das macht es warm für ihn. Ansonsten hat die Nacht noch einmal winterliche Temperaturen mitgebracht. Die Menschen zu seinen Füßen, sofern sie nur Hochzeitstracht tragen, frieren.

Herwig Kipping dreht, nach eigenem Buch, "Novalis – die blaue Blume". Vor der Kulisse des Stadions sollen Sophie von Kühn und Friedrich von Hardenberg (der sich Novalis nannte) getraut werden – "bis daß der Tod sie scheidet". Das wird nur wenige Augenblicke nach dem Jawort geschehen. Dann wird sich Sophie in Medusa verwandeln und Friedrich mit ihrem tödlichen Blick versteinern. Eine gespenstische Zeremonie, mit einer Menge monströs maskierter Menschen, mit deutschen Schäferhunden, mit einigen Sado/Maso-Kostümen, mit Nazi- und DDR-Emblemen und einer Original-Wilhelm-Pieck-Limousine (ein Stalin-Geschenk). Eine Schlüsselszene. Wenn sie abgedreht ist, wird die Nacht fast vorüber sein.

Etwas mehr als hundert Menschen tummeln sich oben an der Feuer-Stelle. Ein großer Haufe für einen Drehtermin, ein verschwindendes Häuflein für den riesigen Stadionbau, in dem vor drei Stunden mit gewaltigem Krachen das Flutlicht angeworfen wurde. Testdurchlauf: Der Regisseur probt mit den Statisten, wie sie als "Ungeheuer" den Hochzeitszug bedrohen sollen. "Ihr müßtet eigentlich…", "am besten war"s vielleicht…". Ein Befehlston ist Kipping fremd – auch, weil er selbst mitunter noch kein genaues Bild vom besten Ablauf einer Szene hat. (…)

Herwig Kipping kann keine gewöhnliche Biographie, kein gewöhnliches Drama drehen. Wer vor eineinhalb Jahren "Das Land hinter dem Regenbogen", sein mit dem Bundesfilmpreis in Silber ausgezeichnetes Kino-Debüt gesehen hat, weiß das. Der Debütant war 43 Jahre alt und hatte zehn Jahre Gängelung und Arbeitsverbot durch die DDR-Film- und Fernseh-Oberen hinter sich. Das zwingt ihn noch immer, sich auch mit den Unbilden der Politik auseinanderzusetzen.

Sophie von Kühn war 12, als der 22jährige Novalis sich fanatisch in sie verliebte. Sie starb mit 15 und blieb die Muse des Romantikers, der selbst nur 29 Jahre alt wurde. Die "große Liebe, die erhebt und zum Schöpfer macht", will Kipping an Novalis zeigen. Aber auch, wie das Scheitern an romantischer Liebe mit verhängnisvoller politischer Romantik kompensiert wird. Hitler, Novalis, Einheitswahn, Kipping, die DDR, ein neues 1000jähriges Reich – im kurzen Gespräch zwischen Probe und Dreh knüpft der Regisseur ein ganzes Netz bedenklicher und bedenkenswerter Bezüge. Er spricht ungeordnet, aber immer mit Emphase. "Kipping ist ein Dichter", sagt eine Kollegin, die mit ihm studiert hat, "der einzige lebende deutsehe Dichter, von dem ich weiß."

Novalis steht derweil am Verpflegungswagen und trinkt Bier. Der 21jährige Hamburger Christoph Schiller spielt den Dichter und trägt schwer an der theoretischen Last, die seiner Rolle aufgeladen ist. "Einen Überblick über den Charakter habe ich nicht", gibt er zu. Aber er weiß: "Das ist eigentlich nicht Novalis. Das ist Kipping."

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