So viele Träume

DDR 1985/1986 Spielfilm

"… und immer so weiter"



Margit Voss, Film und Fernsehen, Berlin/DDR, Nr. 11, 1986




Da hat einer sieben Jahre lang geschwiegen und meldet sich nun wieder zu Wort: kraftvoll, ungestüm, expressiv wie eh und je. Man erkennt Temperament und Rigorosität, die prägnante Handschrift dieses Regisseurs, und ist glücklich darüber.



Heiner Carow errang seine größten Publikumserfolge mit "Die Legende von Paul und Paula" und "Bis daß der Tod euch scheidet". Die Autoren dieser beiden Filme, Ulrich Plenzdorf und Günther Rücker, der eine fünf Jahre jünger, der andere fünf Jahre älter als er, sind wohl sehr unterschiedliche, aber exzellente Fabulierer. Ihre literarischen Vorlagen glichen einem Füllhorn, dessen sich zu bedienen Lust machen mußte. Nun hat sich Carow für seinen Film "So viele Träume" mit einem jungen Autor, Wolfram Witt, verbündet. Diese Partnerschaft muß noch erprobt werden. Sie scheint einerseits dem Vorhaben zugute gekommen, andererseits aber auch Quelle mancher Unebenheit zu sein.



Erstaunlich reich ist das Denkangebot, aus dem die Fabel erwächst. Zwei Generationen hatten bisher in unserem Land die Chance, ihr Leben anders einzurichten als ihre Mütter und Väter.



Wie haben sie diese Chance genutzt? Was ist herausgekommen bei dem Versuch, Ideale sozialistischer Lebensweise, Emanzipation im Alltag durchzusetzen? In welchem Verhältnis stehen Gewinn und Verlust? Was war erreichbar, was nicht? Wo genügte man selbst nicht den Anforderungen? Wo steckte man zu früh auf? Wo jagte man Illusionen nach?



Eine Bestandsaufnahme in der Veränderung, ein Innehalten in der Fahrt, Rückschau, Bilanz, Erkenntnis und neuer Anlauf in einem.



Und wiederum kein Zufall, daß ein Frauenleben befragt wird, vertrauend darauf, daß sich an ihm Konturen schärfer herausarbeiten lassen als aus der Biographie eines Mannes. Die Heldin heißt Christine, ist knapp fünfzig Jahre alt und Hebamme. Diese Charakteristika haben ihren Ursprung in einer biographischen Sammlung, die Imma Lüning verfaßte und welche dem Autor als Anregung diente. Die Bilanz eines Lebens wird im Verlauf von vierundzwanzig Stunden gezogen. Unter dem Strich sichtbar: die soziale Gleichstellung der Frau, ihre materielle Unabhängigkeit. Aber es werden auch die Kosten aufgerechnet, die auf diesem Weg anfielen. Sie leiten sich her aus den Unwägbarkeiten menschlicher Psyche, aus unterschiedlichen politischen Haltungen, Charaktereigenschaften und Lebensansprüchen. Die harmonische Partnerschaft zu finden, Quelle des Glücks und der Erfüllung, ist der Heldin versagt geblieben. Daß die Handlung am Tag einer großen Auszeichnung Christines einsetzt, hat gravierende Bedeutung für den Erzählstil und die Gefühlslage der Protagonistin. Alles, was dem Betrachter vorgeführt wird, findet eine Handbreit über dem Boden statt, in der Schwebe von sich jagenden Gedanken, Erinnerungen, Reflexionen und emotionalen Umschwüngen. Was in unseren Filmen lange nicht versucht wurde, eine deutlich erkennbare Kunstebene zu schaffen, hat Carow bewußt angestrebt und inszeniert. Für die Verabredung mit dem Zuschauer, ihm auf diesem Weg zu folgen, drehte er eine lange Eingangssequenz, in der sich Christine ihrer Vergangenheit in Alpträumen erinnert. Es sind ihm dabei Bilder gelungen – wie etwa die Hochzeit Christines mit verbundenen Augen, ihr Gefesseltsein im Fischernetz – von geradezu symbolträchtiger Schönheit.



Gleichzeitig aber konfrontiert Carow den Zuschauer mit einer gewaltigen Hürde, die dieser sozusagen aus dem Stand nehmen muß. (…)

Rechtsstatus