Birkenau und Rosenfeld

Frankreich Deutschland Polen 2002/2003 Spielfilm

Birkenau und Rosenfeld



Ulrich Kriest, film-dienst, Nr. 8, 15.04.2004

"Erinnern Sie sich?" – "Nein, ich erinnere mich nicht!" Die Stimmung zu Beginn hat etwas von einem gut gelaunten Klassentreffen. Allerlei ältere Herrschaften, darunter die deutlich jünger wirkende Myriam, treffen sich in Paris, um der Befreiung der NS-Vernichtungslager zu gedenken. Die Veranstaltung darf man sich durchaus locker vorstellen, wenngleich die Erinnerungen "an die alten Zeiten" selbstredend mörderisch sind. Myriam, die erkennbar Mühe beim Erinnern hat, gewinnt bei der Tombola ein Fahrrad, tauscht dieses aber spontan gegen ein Bahnticket nach Krakau ein. Zum ersten Mal nach der Befreiung des Lagers begibt sie sich in die Nähe der titelgebenden "kleinen Birken-Au". Bereits im Vorfeld entdeckt sie, dass sich in der Umgebung des Lagers ein florierender Gedenkstätten- Tourismus etabliert hat. Auch scheinen die direkten Anwohner irritierend unbekümmert ihrem bäuerlichen Alltag nachzugehen. Myriam betritt das Lager durch einen Seiteneingang – und wird von ihren Erinnerungen überwältigt. Sie kommuniziert mit den Geistern der Ermordeten, bewegt sich mit traumwandlerischer Sicherheit entlang überwucherter Wege, nimmt das Lager, ihr Zuhause, in Besitz – und wird von ihm in Besitz genommen. Sie begibt sich auf die Suche nach der Stelle, an der sie ihren Vater verscharrte. Der Schrecken ist in Auschwitz omnipräsent, das gesamte Erdreich eine Schädelstätte.

Irgendwann begegnet Myriam dem jungen Fotografen Oskar, der auf dem Gelände "Spuren und Zeichen" dokumentieren möchte. Der Film präsentiert eine Reihe von Strategien des Erinnerns und Trauerns: Ein Mann kommt, um nachzudenken, eine Gruppe junger Leute hat sich bei der Todesbaracke versammelt, um zu trauern. Sensibel werden Kommunikationsbedürfnisse wie ihre Verweigerung registriert. Die Eindrücke vor Ort gleicht Myriam durch Telefonate nach Paris mit den Erinnerungen ihrer Freundinnen ab. Teil der Spurensuche ist auch die Begegnung mit Polen, die sich gewissermaßen "an fremden Orten" eingerichtet haben, von den KZ-Besuchern profitieren, in den Wohnungen der ausgelöschten Familien leben, vielleicht antisemitische Ressentiments pflegen. Myriam ist auch dafür sensibel, vielleicht sogar übersensibel. Später stellt sich heraus, dass Oskar der Enkel eines KZ-Aufsehers ist, dessen Erinnerungsarbeit zugleich ein Trauma der Familiengeschichte bearbeitet und solcherart Kunst produziert. Diese Ambivalenz eines fiktionalen Films über Auschwitz findet sich (vielleicht) auch in jener Szene, in der Myriam Notenständer aus dem Gras birgt und sie so in Positur setzt, dass die Kadrage der Kamera verdoppelt wird. Beim wiederholten Sehen des Films lösen sich einige dieser provozierend-eitlen Ästhetisierungen zu eher doppelbödigen Selbstreflexionen des Unternehmens auf, andere, etwa die Begegnung Myriams mit der Doppelgängerin jenes 15-jährigen Mädchens, das sie in Auschwitz war – forcieren die Tautologie des längst Gesagten. Am Schluss besteigt Myriam einen der Lagerwachtürme, öffnet das Fenster und schreit "Ich lebe noch", womit sie den Skandal benennt, als den die Überlebenden ihr Überleben empfinden.


Es ist schwierig, ein grundsätzliches Unbehagen gegenüber dem Film in Anschlag zu bringen. Dem steht einerseits das Gewicht des Autobiografischen entgegen, denn Marceline Loridan-Ivens war selbst eine Deportierte, kam 1944 nach Auschwitz und wurde 1945 von Truppen der Roten Armee befreit. Die jahrelangen Debatten um die (filmischen) Formen der Erinnerung an die Shoah wischt die Regisseurin mit einer Radikalität vom Tisch, die bei der Lebensgefährtin und Mitarbeiterin des Dokumentaristen Joris Ivens doch etwas überrascht. Filmimmanent findet diese radikal subjektive Zuspitzung eine polemische Begründung: Kurz vor ihrer ersten Begegnung mit Oskar hockt sich Myriam zwischen die Baracken, um zu urinieren. Dabei wird sie von Oskar beobachtet und fotografiert, der sie darauf hinweist, dass sich "so etwas" an diesem Ort nicht gehöre. Schroff entgegnet Myriam, dass Auschwitz ihr Zuhause sei und sie hier tun und lassen könne, was sie wolle. In dieser Konstellation von überlebendem Opfer und nachgeborenem Zuschauer verdoppelt der Film seine Erzählhaltung und immunisiert sich damit gewissermaßen gegen alle ästhetischen Einwände. Andere Szenen fallen weniger entschieden aus und offenbaren eine starkes Misstrauen gegen die Kraft der Bilder. So will Loridan-Ivens vermitteln, dass der Ort für sie "angefüllt" sei, während er anderen leer erscheinen mag. In vielen Einstellungen ist genau dieser Eindruck präzise und unaufdringlich realisiert.


Dennoch wird der für den Film konstitutive Gedanke auch explizit szenisch aufgelöst und zwar in einer unfassbar plumpen Szene, in der zwei junge Frauen eine Baracke betreten und genau diese Diskrepanz zwischen Erwartung und Erleben in einen hölzernen Dialog kleiden: "Schon irre, ich fühle überhaupt nichts. Dabei müsste ich doch irgendetwas fühlen. Spürst du etwas?" Ist solche eine Szene filmisch unbeholfen, so gibt es auch ärgerliche Tautologien, die den Film insgesamt beschädigen. So erstaunlich und fast obszön die Normalität auf dem Marktplatz von Krakau nach den Erkundungen auf dem Lagergelände erscheinen muss, so entscheidet sich Loridan-Ivens auch noch für jene Szene beim Tanztee, in der ein älterer Mann eine Überlebende fragt, ob die Ziffernfolge auf ihrem Unterarm ihre Telefonnummer sei. Unglücklich auch die Entscheidung, bestimmte Reflexionen Myriams in szenische Monologe aufzulösen, die dem Gegenüber August Diehl wenig mehr Raum lassen, als betroffen mit den Augen zu rollen. Andere Dialoge sind extrem unfilmisch umgesetzt, und in der deutschen Fassung kommt noch hinzu, dass der Off-Kommentar von Hannelore Elsner mit bloß routinierter Vorleserinnenstimme gesprochen wird. So zerfällt "Birkenau und Rosenfeld" in Teile einer quälend intensiven Erinnerungsarbeit voller "stimmiger" Impressionen und banalstem, künstlerisch missratenem Kitsch, der sich selbst nicht zu schade ist, die Architektur vor Ort für "schöne" Einstellungen zu missbrauchen. Hier gilt, um mit Gertrud Koch zu sprechen: "Die Einstellung ist die Einstellung." So eindringlich der Film auch skizziert, "(w)as von Auschwitz bleibt" (G. Agamben), so deutlich macht sein Scheitern auch, wie wichtig es ist, sich über die Grenzen der Ästhetisierung von Zeugenschaft zu verständigen. In seinen überzeugendsten, aber auch in seinen fürchterlichsten Momenten ist der Film ein klares, unmissverständliches Plädoyer für eine Nicht-Fiktionalisierung von Spurensuchen im Vernichtungslager.

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