Der singende Narr (1929 )

Rudolf Arnheim, in: Ders., Kritiken und Aufsätze zum Film, hg. von Helmut H. Diederichs, München/Wien, 1979, S. 65-66

Nachdem die Berliner Kritik, durch Feuermelder alarmiert, mit aufgeregtem Klingeln und Trompeten herbeigeeilt war, fand sehr plötzlich die Geburt des Tonfilms in Deutschland statt. Die Hebammen hatten sich lange geprügelt, welche Zange die beste sei und wer an die Mutter herandürfe, und auch jetzt haben sie nur schnell einmal das Kind zur Welt gebracht, um den Kampf um ihre Rechte ungestörter austragen zu können.
Das Kind, das uns da geboren worden ist, hat vom Theater die Statur und vom Film die Frohnatur mitbekommen, und nun wird ein großes Erziehen losgehen.

Wer mag den Aberglauben aufgebracht haben, daß der Tonfilm, weil er technisch eine Neuerung darstellt, nun auch schon eine Kunstform sui generis bedeuten müsse. Man läßt alle Hunde los um die künstlerischen Sondereigenarten des sprechenden Bildes zu entdecken, aber die beste Nase hat hier, scheint mir, wer gar nicht sucht. Al Jolsons "Singender Narr" zeigt sehr deutlich, wohin die Entwicklung geht. Dieser Film zeigt vor allem, daß noch keine feste Form gefunden ist. Nicht etwa, weil der Dialog teils akustisch, teils durch Zwischentitel gegeben wird, denn dies ist – was wenig bekannt zu sein scheint – ein Resultat der deutschen Bearbeitung, in der der englische Dialog nur an wichtigen Stellen stehengeblieben ist, während man im übrigen die plaudernden Münder herausgeschnitten und an ihre Stelle deutsche Titel gesetzt hat. Nein, keine feste Form insofern, als man z.B. noch nicht erkannt hat, daß während eines akustischen Ablaufs kein Einstellungswechsel stattfinden darf: Al Jolson singt unsern Augen sein Liebeslied, und auch unsre Ohren hören, aber mitten in der Strophe springt das Bild zu dem Mädchen, dem das Lied gilt, und die Melodie ist vom Munde fortgerissen und schwebt im dunkeln Nichts. Keine feste Form insofern, als man noch nicht erkannt hat, daß Begleitmusik – so paradox das heute noch klingen mag – nicht zum Tonfilm, sondern ausschließlich zum stummen Film gehört.

Die Begleitmusik, mag sie nun aus technischen Gründen notwendig sein oder nicht, macht den Tonfilm zum Melodram und verschmiert dadurch die künstlerische Reinheit seiner Mittel unerträglich. Soll der Tonfilm überhaupt einen Sinn haben, so wird er seinen akustischen Teil rein durch reproduzierte Geräusche bestreiten müssen. Erst bei einer so energischen Umstellung wird sich auch zeigen, daß die raumzeugende Macht des lokalisierten Lauts mit Notwendigkeit auch dem Bilde eine stabile und realistische Räumlichkeit aufzwingt und dadurch etwa Sprünge von Großaufnahme zu Totalaufnahme innerhalb derselben Szene zu schmerzhaften Ungeheuerlichkeiten macht. Werden auf diese Weise allmählich die aus Trägheit mitgeschleppten Erbschaften des stummen Films abgestreift sein, so wird sich erweisen, daß sich da keine neue Kunstform herauskristallisiert hat, sondern es wird eine sehr alte zum Vorschein kommen: das Theater. Tonfilm ist technisch vervollkommnetes Theater. Er bringt dem Theater vor allem die Möglichkeit blitzschnellen Szenenwechsels. Eine der eindrucksvollsten Szenen des Al Jolson-Films, die zeigt, wie der Held von einem Lokal aus mit seiner Frau zu telephonieren meint, während, wie plötzlich sichtbar wird, das Stubenmädchen am Apparat ist – diese Szene ist reines Theater mit idealer Drehbühne! Die Sturm- und Drangdramen, etwa der Urgötz oder Lenzens aus einem Mosaik kleiner Szenen zusammengesetzte Stücke, sind für Tonfilm geschrieben.

Die technische Lösung ist noch recht unvollkommen. Zwar wenn Al Jolson singt, klatscht man Beifall, so leibhaftig sieht und hört man ihn vor sich, und wenn das feine Stimmchen des Kindes zum Vater spricht, so ist der Ton der Grammophonplatte erschreckend mit Leben erfüllt. Tut aber der blonde Vampyr seinen Mund auf, so hört man eine Signalpfeife trillern, und der Lärm des Tanzlokals klingt nach Staubsauger. Hier ist noch viel Arbeit nötig.
Mit dem Inhalt des gesprochenen Textes sollte man nicht so kritisch sein. In einer Zeit, wo das Sprechtheater den Primat des Wortes mit so wenig Würde verwaltet, wo der Dichter oft nicht viel mehr als ein Libretto liefert, einen Anlaß, damit die Darsteller einander unter der Leitung findiger Regisseure wiehernd in den Hintern treten und sonstige Parterreakrobatik und Verkleidungskünste üben können, und dies unter dem Beifall des Publikums, sollte man nicht plötzlich beim Tonfilm streng werden.

Dank aber sei der neuen Erfindung, daß sie uns ein Gastspiel des großen Darstellers Al Jolson vermittelt hat. Dies Gesicht, dem ein echter Schmerz die Augen verhängt und den Mund furcht, diese intelligente Stimme, dies herrliche Gemisch von Ernsthaftigkeit und Ironie, mit dem ein kluger Mann seinem geliebten Kinde Geschichten von Kaninchen und Fröschen erzählt, dies zärtliche Streicheln, diese jungenhafte Freude am Erfolg – dieser Mensch macht aus einem albernen Rührstück eine tränenheischende Tragödie.

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