Kinematographentheater

Max Brod: Kinematographentheater.
In: Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914. Hrsg. v. Jörg Schweinitz. Leipzig: Reclam 1992. S. 15-17.

Mitarbeiter der Firma Pathé frères, Paris, stelle ich mir so etwa vor: nach neuen kinematographischen Ideen ausstreifend durch die bekannt-schöne Umgebung von Paris kommen sie, beispielsweise, zu einer Sandgrube. Sofort ruft einer: Voilà! usf., auf französisch natürlich, zu deutsch ungefähr heißt es, daß seiner Ansicht nach hier die beste Gelegenheit für eine neue Aufnahme wäre, die man dann "Drama in den Goldminen Kaliforniens" nennen könnte. Und schnell werden die notwendigen Utensilien herbeigeschafft, wie breitkrämpige Hüte, Revolver, Seile für Goldlasten, Kurbeln, Patronengürtel, quer um die Brust zu schnallen, und los, man spielt schon unter Aufsicht des gigerlhaften Regisseurs Wildwestmanieren auf den Film ... Oder ein flaches Magazindach gibt diesen Romantische Anregung zu maurischen Zitadellen, ein Sumpf zu Ritten durch die Wüste Gobi, ein vorbeifahrender Kulissenwagen zu allen Szenerien der Erde ... Und nicht als Tadel sage ich das, nein, es entzückt mich ja, daß gerade durch diese Edisonerfindung, die anfangs nur nüchtern kopiertes Leben sein wollte, so viel phantastisches Theater in die Welt gekommen ist ...

Nun sitze ich manchen Abend vor der weißen Leinwand und, nachdem es mich schon beim Eintritt jedesmal belustigt hat, daß es hier eine Kassa, eine Garderobe, Musik, Programme, Saaldiener, Sitzreihen gibt, all dies pedantisch genau so wie in einem wirklichen Theater mit lebendigen Spielern, nach dieser, wie mir scheint, witzreichen Beobachtung macht mich das leise Sausen des Apparats siedend vor Erwarten. Ich habe die Liste studiert, ich weiß, welche Nummer "belehrend", welche "urkomisch", "sensationell" oder "rührende Szene aus dem wirklichen Leben" sein wird. Und bald verfinstert sich der Saal zu einer „Reise nach Australien". Ich sehe Straßen, Menschen, die vorbeigehn, sehr schnell trotz aller Behaglichkeit, manche bleiben stehn und unbeteiligt schaun sie unter ihren australischen Mützen her zu mir. Grüß dich Gott, Mensch, du siehst mich nicht, vielleicht bist du schon tot, einerlei, sei mir gegrüßt! Sodann erlebe ich eine Feuersbrunst, Alarm, die pflichtübertreue Löschmannschaft im Ansturm. Es kommt mir vor, als hätte ich denselben Brand auch auf einer Reise durch Chicago schon erlebt, aber vielleicht täuscht mich da mein kinematographisches Gedächtnis. Überdies bin ich nicht nach Australien gekommen, um nur Brände zu sehn; gleich werde ich durch zwei Schienen überrascht, die auf mich zugleiten, ich sitze nämlich in der Lokomotive eines Blitzzuges, ich erfreue mich an Bergen, Flüssen, Eingeborenen, an dem absoluten Nichts im Tunnel. Typen aus dem Innern des Landes; wie immer bei exotischen Aufnahmen fehlt der Raseur nicht, nicht der eingeseifte Schwarze, der Grimassen mitteleuropäischen Varietestils schneidet. Schluß, überraschend, ach warum schon?

Aber das folgende ist nicht schlechter. Die Wissenschaft hat ihr Recht bekommen, jetzt zappelt das Fröhliche an die Reihe und mit Adagiobegleitung eines Wiener Liedes die Tragik. Da sind die Zaubereien, geduldig kolorierte tausend Photographien, Verwandlungen der Blumen in Ballettmädchen, Brahminen mit langen Barten, Übeltäter, denen der Kopf abfällt wie nichts, Schwebende, Reisende zum Mond, Gottheiten, der Teufel. Geschehnisse des Alltags wollen nicht fehlen. Falschmünzer werden entdeckt, Verbrecher nach langer Verfolgung gefangen genommen, arme Kinder gefoltert, Familienväter unschuldig verurteilt, gerettet im letzten Augenblick. Ich kenne das auftretende Personal schon ganz genau, genau den Knaben, der sich vor Lachen kaum halten kann, immer wenn er weinen soll. Dieser betrogene Gatte war gestern ein nicht zu rührender Bruder. So erfüllt sich die Gerechtigkeit, über die einzelne Tat hinweg. Dies bewundere ich; noch mehr aber, wie durch Gesten die kompliziertesten Voraussetzungen deutlich gemacht werden. Man sieht: "dich hasse ich" oder "warum hast du gestern meinem Onkel gesagt, daß ich um halb sechs Uhr noch zu Hause war?" oder "auch der Sohn dieses Mannes hat mich vor zwanzig Jahren bestohlen". Und nur das eine erscheint mir rätselhaft, da gewöhnliches Sprechen schon durch so starke Gesten dargestellt wird: wie man kinematographisch jemanden andeuten würde, der in einem fremden Lande gestikulierend sich verständlich macht oder der von Natur aus zu heftigen Gebärden neigt.

Indes zum Nachdenken ist nicht die Zeit. Denn die zweite Abteilung überschüttet mich schon mit Bildern "zum Kranklachen", wie das Programm sie nennt, mit betrunkenen Briefträgern, Naturmenschen, Galanen, die in einem Kasten sich verstecken und dann die oh! so lange, so zum Kranklachen lange Reise im Speditionswagen, auf der Eisenbahn wippend mitmachen müssen. Matratzen werden lebendig, ein Klebestoff ist unübertrefflich, der Stiefel zu eng, Teller zerkrachen lautlos im Staub, Megären heulen, Witzbolde lachen. Und ganze Versammlungen von Menschen, die einander prügeln, ganze Kolonien von Leuten, die unter jeder Bedingung einen davonlaufenden Pintscher einfangen wollen ... Die Lebendigkeit, mit der so viel geschieht, hat mich schließlich aus meiner halbschlafenden Daseinsart aufgeschüttelt.

Nun auf dem Heimwege werde ich zum Erfinder, denke mir selbst neue Bilder für den Biographen aus: eine Verfolgung, in der einmal statt Automobil, Lokomotive oder Dräsine zwei Schiffe miteinander Wettlauf machen, ein Kreuzer und ein Piratenschiff, über die weite Meeresfläche hin verringert sich immer mehr im wütendsten Schießen ihr Abstand ... Das wäre allerdings ein teurer Film. Um so billiger der zweite, darstellend einen Dichter in einsamer Kammer, der über die Schwierigkeiten eindringlicher, doch rückhaltender Darstellung in verzweifelte Wut gerät.

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