Künstlerprofile: Ernst Lubitsch

Julius Urgiss, Der Kinematograph, Düsseldorf, 30.8.1916

Der kleine lebhafte, noch jugendliche Mensch hat nie Zeit. Er ist immer auf dem Sprunge, immer mit Plänen, Gedanken, Arbeiten beschäftigt, stets bereit, neue Betätigungsgebiete in sich aufzunehmen. Stets und an jeder Kunststätte. Als ich ihn im lebhaftesten Gewoge des täglichen Kaffeehausbetriebes traf, und ihm sagte, dass ich mich gelegentlich einmal mit ihm ernst über die Filmkunst und über seine Betätigung in ihr unterhalten möchte, da sagte er mir: "Was heisst ernst ? Ernst habe ich genug in meinem Vornamen. Kommen Sie, das können wir gleich machen". Und er schleppte mich eine Treppe höher, die weil es dort ruhiger sein sollte. Aber auch dort störte mich der ungestörte Betrieb. Lubitsch jedoch kümmerte sich wenig um das, was dort um ihn herum vorging, und in der Tat, er sprach so interessant, er fesselte mich schnell so stark, dass auch ich bald nichts mehr anderes sah, als das Objekt, vor dem ich sass.

Es entspann sich ungefähr folgendes Einleitungsgespräch: "Also was wollen Sie?", fragte er. "Nicht so stürmisch, junger Mann," sagte ich, "erst werde ich meinen Notizblock nehmen, dann werde ich meine Lanze, meinen Bleistift, zücken, und dann werden Sie mir schon auf das antworten, was ich Sie frage!" Aber da stand mein Lubitsch schon wieder. "Ich spreche ja viel zu schnell, das können Sie gar nicht aufschreiben. Und ich habe auch gar keine Zeit". Mit sanftem Druck beförderte ich ihn erst einmal auf seinen Stuhl zurück. Dann hielt ich ihn nicht nur am Rockärmel fest, sondern ihm auch einen fünf Minuten währenden Vortrag über den Wert und Unwert der Zeit, und ich endete meine diesbezüglichen lichtvollen Ausführungen mit der Konstatierung der Tatsache, dass die Zeit überhaupt das einzige ist, was wir haben. Lubitsch sah mich sprachlos an. "Ja, ja," sagte ich, "nun finden Sie keine Worte". Er schüttelte bedächtig den Kopf, und ich hörte, wie er vor sich hinmurmelte: "Ich und keine Worte finden, das ist mir auch noch nicht passiert". Und was so oft im Leben vorkommt, dass die widersprechendsten Eigenschaften sich plötzlich auf gemeinsamem Wege begegnen, auch hier bei uns trat dieses Ereignis ein, unsere Unterhaltung kam in den von mir gewünschten Fluss. Und die Unterhaltung wurde trotz des Vornamens des Künstlers dennoch ernst, sehr ernst.

Zum Fragen kam ich eigentlich gar nicht viel. Lubitsch sprach und sprach. Zuerst entlud sich alles, was er so an Kritik in sich aufgespeichert hatte. Er wandte sich vornehmlich gegen die, leider auch bei vielen Schauspielern, immer noch vorherrschende Ansicht, als ob für das Filmspielen eine geringere schauspielerische Begabung nötig sei als wie für die Bühne. Er nennt das eine durch nichts gerechtfertigte und durch nichts bewiesene Herabsetzung. Und gerade, weil unter den Bühnenkünstlern immer noch eine merkwürdige falsche Ansicht vertreten ist, die sie abhält, sich in der Filmkunst zu betätigen, oder gar auf sie von oben herabzusehen, dürften Dilettanten nicht an das Spielen vor dem Kurbelkasten gehen.

Gewiss, so meint Lubitsch, ist die Theaterkunst nicht identisch mit der Filmkunst, der bedeutendste Unterschied liegt für ihn in der strafferen Szenenführung beim Filmstück. Und dann darf man jene Schwierigkeiten nicht verkennen, die darin bestehen, dass bei den Aufnahmen die Szenen nicht, wie sie später im fertiggestellten Film erscheinen, sondern nach der Reihenfolge des Ortes der Handlung aufgenommen werden. Dieses letztere Moment berührt natürlich im besonderen die geistige Fähigkeit des Darstellers, der seine Kunst so in der Gewalt haben muss, dass er sich zu jeder Zeit in die verschiedensten vorher dargestellten Situationen auch zurückzufinden vermag. Ausser auf diese enorme Schwierigkeit, die nur der ganz würdigen kann der sich reichlich, und je reichlicher mit desto mehr Erkenntnis, mit ihr befasst hat, weist Lubitsch darauf hin, dass genau wie der Schauspieler auf der Bühne das Gefühl haben muss, in welcher Tonstärke er in jeder Szene, ja in jedem Moment zu sprechen hat, auch der Filmschauspieler wissen muss, mit welcher Langsamkeit, Lebhaftigkeit oder Geschwindigkeit er Bewegungen zu machen hat. Hier an dieser Stelle muss sich nach Lubitsch"s Meinung die Tüchtigkeit des Filmregisseurs, die sich ja auch in so vielen wesentlichen Punkten von der Tätigkeit des Bühnenregisseurs unterscheidet, erweisen. "Der Regisseur", sagt er, "ist auch so ein besonderes Kapitel. Meiner Meinung nach fehlen sie fast alle in einer wichtigen Grundfrage. Sie verwenden wohl durchweg, wenigstens in den Hauptrollen, festengagiertes Personal. Das ist falsch, ganz falsch. Beim Film, wo nur die Geste und die Mimik zu sprechen haben, wo also das Wort, ihr grosser Bundesgenosse, fehlt, muss viel individueller jede Rolle besetzt werden. Der Regisseur hat gewissermaßen unter den Bestimmungen seiner Direktion zu leiden."

Andererseits spricht Lubitsch mit grosser Anerkennung über die Filmregie und über die Filmszene. Auch er ist der Ansicht, dass die Ausstattung erstklassig, das heisst schön und stilgemäß sein muss. Aber der Ausstattungsgedanke darf nicht überwiegen, darf nicht, wie wir es so oft erleben, zur Hauptsache werden. Er meint, dass in dem Bestreben, grosse Dekorationen und tiefe Flächen auf das Bild zu bringen, eine Einstellung des Aufnahmeapparates bedingt, unter der das Spiel der Künstler vernachlässigt wird, vernachlässigt werden muss. Dieses Spiel aber bleibt doch wohl immer die Hauptsache, der Nerv des Ganzen. Deshalb sollte jede wichtige Szene nur ganz vorn durch premierplan-Aufnahmen genommen werden. Dadurch kommen auch erst die feinsten Nuancen des Mienenspiels zu ihrer vollen Geltung. Die Maske allein ist nicht das Wesentliche, ja, Lubitsch macht, wenn es nur irgend wie angängig ist, überhaupt keine Maske, wodurch er übrigens ein schon vorhin erwähntes Prinzip unterstreicht, dass ein Darsteller nur Rollen spielen soll, die seiner Individualität liegen.

Lubitsch ist eine Individualität. Seine Domäne ist das Komische bis zum Grotesken. Er sieht darin zwei verschiedene Richtlinien. Bei der Filmgroteske ist jede Unmöglichkeit erlaubt, die Logik darf vollständig ausgeschaltet werden, beim Filmlustspiel hingegen muss die Handlung logisch aufgebaut sein. Eine Verquickung beider Alten ist künstlerisch ganz unmöglich. In beiden Arten aber ist Lubitsch Meister, und viele Beispiele hat er uns gegeben, die das dokumentieren.

Die Frage lag nahe, und eigentlich sollte sie, die erste sein, die ich an ihn richten wollte, wie nämlich Lubitsch sich zu dem Film mit jüdischem Milieu stellt. In dieser Filmstückart hat er seine grössten Triumphe gefeiert (man denke an die künstlerische Sensation "Die Firma heiratet"", man denke an "Der Stolz der Firma", man denke an "Schuhwarenhaus Pinkus"). Er kam in Erregung: "Es ist oft gesagt worden, dass an Filmen mit jüdischem Milieu Anstoss genommen wird. Das ist ja ein ganz unglaublicher Standpunkt. Wenn der Fall eintritt, dass solch ein Film Missfallen erregt, dann liegt das einzig und allein an einer Darstellung, der das Wesen des jüdischen Humors entweder nicht liegt, dann aber soll ein Künstler seine Hand von dieser Aufgabe lassen, oder aber an jener maßlosen Übertreibung, die jede künstlerische Leistung beeinträchtigt und ihrer Wirkung schädlich ist. Der jüdische Humor ist, wo er auch erscheinen mag, sympathisch und künstlerisch, und er spielt allüberall eine so grosse Rolle, dass es lächerlich wäre, wollte man ihn im Kino entbehren."

Überhaupt wird Lubitsch noch lebhafter, wenn es heisst, den Humor in der Kunst zu verteidigen. Humor ist das Elixier, das alle seine Schöpfungen belebt, Humor in jeder Schattierung. Hier liegt der Grund auch für seine Erfolge, und wir verstehen diesen Erfolg, wenn wir jenes Satzes gedenken, den einst der alte Theaterpraktiker Heinrich Laube aufstellte, wenn er sagte: "Der Humor wirkt mächtiger im deutschen Publikum als die blosse Lustigkeit".

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