Alltagsgeschichten aus der Vorstadt

Magret Köhler, Film- und TV-Kameramann, Nr. 12/2000, 20.12.2000

In anderen Ländern Europas haben die Immigrantenkinder schon längst ihren Platz in der Kinolandschaft gefunden. Margret Köhler wirft einen Blick auf die "Multikulti-Filme" in Großbritannien und Frankreich.

Frankreich und England gelten schon wegen ihrer Kolonialtradition als die klassischen Einwandererländer Europas. Während "Multikulti" in Deutschland noch für Diskussionen und Begriffe wie »Deutsche Leitkultur« für Irritationen sorgen, leben in Frankreich seit Jahrzehnten vor allem Nordafrikaner, in England Einwanderer aus Commonwealth-Staaten wie Pakistan oder Indien. Dennoch ist die Integration der Menschen und ihrer Kultur immer noch schwierig, wächst der Rassismus sogar - nicht zuletzt, weil in England vor allem Pakistanis (0,9 Prozent der Gesamtbevölkerung, der Ausländeranteil beträgt insgesamt nur 5,5 Prozent) oft bei Bildungsabschlüssen besser abschneiden als Einheimische. Das weckt Neid statt Anerkennung.

Seit den 80er Jahren drängen lmmigranten(kinder) in künstlerische Bereiche wie Literatur, Theater und auch Film. Junge Dehbuchautoren und Regisseure der zweiten und dritten Generation versuchten, ihre speziellen Alltagswelten filmisch zu vermitteln.

Einige Beispiele: Hanif Kureishi, Sohn einer englischen Mutter und eines pakistanischen Vaters, machte sich als Drehbuchautor von Stephen Frears" "Mein wunderbarer Waschsalon" (1985), "Sammy und Rosie tun es" (1987) und ständiger Autor am Royal Theatre einen Namen, gehörte mit zu den ersten, denen internationale Meriten zuteil wurden. Er drehte 1991 seinen ersten eigenen Film "London Kills Me", ein liebevolles und sehr genaues Porträt von Randexistenzen in der Themse-Metropole, das die strukturelle Gewalt in der Gesellschaft anprangert, die sich in Arbeits- und Wohnungslosigkeit niederschlägt und Menschen zwingt, mit Drogen dealen zu müssen, weil das die einzige Möglichkeit ist, sich über Wasser zu halten.

Auch Udayan Prasad, der als Neunjähriger aus Indien nach Großbritannien kam, fühlt sich der östlichen wie westlichen Kultur verbunden. "Brothers in Trouble" (1995) ist ein Blick ins Emigrantenleben "The Return Journey" von Abdullah Huseein, der die Erfahrungen von Einwanderern aus Indien und Pakistan in den 60er Jahren miteinbezog. Auch Prasads "My Son the Fanatic" (1997) von Autor Kureishi läßt keine Verbitterung spüren: Es geht darum, die Krise eines Mannes zu verdeutlichen, der begreift, daß er nicht "das Leben führen konnte, das er wollte, aber das Leben lebte, das ein Einwanderer lebt, um in einem Land akzeptiert zu sein, dem er nicht zugehört."

Kleine Emanzipation


Im Mittelpunkt von Gurinder Chadhas "Picknick am Strand" (1993) stehen - selten genug - weibliche Heldinnen. Asiatische Frauen aus drei Generationen entfliehen dem tristen Alltag in London für einen Tagestrip nach Blackpool. Jede von ihnen macht neue Erfahrungen. Eine subtile Zeichnung von kleinen Emanzipationsschritten, aber auch vom allgegenwärtigen Rassismus. Erst in diesem Jahr präsentierte der in Dublin lebende Ire Damien O"Donnell mit "East is East" seinen amüsanten Blick auf eine pakistanisch-britische Familie und ihre Integrationsschwierigkeiten in den frühen 70ern. Das Buch stammt von Ayub Khan-Din und beruht auf dessen gleichnamigem autobiografisch gefärbten Bühnenstück, das erfolgreich am Londoner Royal Court lief. In Frankreich existiert sogar ein Begriff für das Kino der dort lebenden, aus Nordafrika stammenden Bürger: "cinema beur", eine Anspielung auf deren "Spitzname". Die meisten von ihnen wohnen ausgegrenzt in Ghettos wie der Pariser Banlieue oder in anonymen Sozialwohnungen am Rande von Städten wie Lyon. Oft kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der nicht gerade zimperlichen französischen Polizei, offener Rassismus ist keine Seltenheit.

Schon 1984 gab der 1952 in Algerien geborene Mehdi Charef mit "Tee im Harem des Archimedes" sein vitales und poetisches Regiedebüt mit den Alltagsgeschichten um ein Freundespaar, einen Franzosen und einen Algerier, in der Pariser Vorstadt. Sein Werdegang ist exemplarisch: Anfang der 60er Jahre ließ sein Vater die Familie nachkommen - Mehdi lernt die Barackensiedlungen und die Schlafstellen in der Pariser Peripherie kennen, träumt davon, zu schreiben, landet aber in der Fabrik. Er begeht kleine kriminelle Delikte und landet im Gefängnis, arbeitet dann weitere zehn Jahre in der Fabrik, bis kein Geringerer als Costa Gavras ihn entdeckt und mit ihm den Film "Der Tee im Harem des Archimedes" produziert. Einen umgekehrten Weg geht Rachid Bouchareb. Er zeigt in "Cheb - Flucht aus Afrika" (1990), wie fremd den in Frankreich aufgewachsenen Algeriern ihr Heimatland geworden ist und wie man ihnen dort mit Mißtrauen als "Westler" begegnet. Sein neuester Film "Little Senegal" war noch nicht in Deutschland zu sehen.

Enttäuschte Träume

"Vivre au paradis" (1997) heißt Bourlem Guerdjous Werk, aber im Paradies leben seine Helden nicht. Er geht zurück in das Jahr 1961/62, zeichnet das Schicksal eines algerischen Arbeiters, der seine Familie aus Süd-Algerien nachziehen läßt und bei der Suche nach einer menschenwürdigen Wohnung in der armseligen Umgebung von Nanterre auf Ablehnung stößt. Der Traum vom besseren Leben erfüllt sich nicht. Exponent nordafrikanischer Filmemacher ist auch der in Tunesien geborene Karim Dridi, der schon im Alter von zwölf Jahren seinen ersten Super-8-Film drehte. Sein erster Spielfilm "Pigalle" (1994) sorgte beim Filmfestival Venedig für Gesprächsstoff. Hoffnungslos scheint die Zukunft seiner Protagonisten im Pariser Rotlichtbezirk zu sein, die durch die Ablehnung der Gesellschaft in die Kriminalität gedrängt werden. Sein zweiter Film "Bye Bye" (1995) spielt im arabischen Milieu von Marseille, erzählt von Menschen, die schon lange in Frankreich leben und am Wohlstand teilhaben möchten, statt dessen mit rechten Tendenzen und Gewalt konfrontiert werden. Dridi vermeidet es jedoch, in der "Multi-Kulti"-Ecke zu bleiben, drehte inzwischen unter anderem eine Dokumentation über Ken Loach und eine über Südafrika. Sein neuester Film "Cuba feliz"(2000) ist eine Hommage an die Musik der Zuckerinsel.

Auffallend ist die mangelnde Kontinuität in der Filmarbeit ethnischer Minderheiten: Es gibt immer neue Talente, die aber nach einiger Zeit wieder in der Versenkung verschwinden, über die Jahre hinweg sind nur Kureishi, Bouchareb und Didri so etwas wie wirkliche Konstanten. Typisch für diese Filme ist der bewußte Verzicht auf scheinheilige "political correctness", ein Sozialrealismus ohne Beschönigung, aber auch ohne Zeigefingerpädagogik.

Oft, vor allem in England, entwickeln die Regisseure bei der Beschreibung des Zusammenstoßes der Kulturen einen Sinn für Situationskomik und Selbstironie, propagieren gleichzeitig Verständnis für traditionelle Werte. Das "cinema beur" scheut sich nicht vor der harten Schilderung von Konflikten, Gewalt zählt bei vielen Filmen als durchgängige Komponente. Verbindend ist bei den Filmen ethnischer Minderheiten die Problematisierung von Themen wie Verlust von kultureller Identität, sozialer Ausgrenzung, Suche nach Ersatzwerten, die Frage nach der Definition von Heimat - besonders brisant für die zweite und dritte Generation.

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