Stein schleift Schere

DDR 1986/1987 Kurz-Dokumentarfilm

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Heinz17herne
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„Notizen von einer deutschen Kindheit“ ist die Kurzdoku von Peter Voigt untertitelt, die der gebürtige Dessauer Autodidakt, der nie eine Filmhochschule besucht, aber als ganz junger Mann bei Bertolt Brecht am Berliner Ensemble gelernt hat, auch selbst geschnitten und mit eigenem Kommentartext versehen hat. In die nur „B“ genannte polnische Stadt ist er zusammen mit seiner Familie als Schüler gekommen – Reichsdeutsche, die nach der Besetzung Polens durch die Wehrmacht bewusst dort angesiedelt wurden, um die Infrastruktur zu arisieren.

Als gestandener Defa-Dokumentarfilmer ist Peter Voigt nun ins inzwischen sozialistische Bruderland gefahren, um zu den Wurzeln seiner Kindheit zurückzukehren. Er erinnert sich an die wie Besatzer auftrumpfenden Reichsdeutschen, die nicht nur die Polen, sondern auch die Volksdeutschen, die bisher mehr oder minder friedlich mit den Polen zusammengelebt hatten, in Angst und Schrecken versetzten. Der Innenstadtkern von B war bald polenrein wie immer mehr deutsche Städte als judenrein deklariert wurden: Polen durften nicht mit der Tram fahren, nicht auf Parkbänken sitzen und auch nicht am gesellschaftlichen öffentlichen Leben teilnehmen.

Ja, es war ihnen untersagt, in der Öffentlichkeit in ihrer Muttersprache zu reden. Was Peter Voigts Vater, offenbar ein gnadenloser, in der Wolle gefärbter Nationalsozialist, dazu verführte, zwei Bühnenarbeiter anzuzeigen, die sich in der Kantine auf Polnisch unterhalten hatten. Der Filmemacher erinnert sich an Freunde, an den großen, geradezu ängstlichen Respekt, den er als Reichsdeutscher unter gleichaltrigen Volksdeutschen genoss, an die Verfolgung jüdischer Einwohner der Stadt. Die für ihn als überzeugten Hitlerjungen kein Problem darstellten, ganz im Gegenteil als naturnotwendig begrüßt wurden.

Ausgangspunkt der eigenen Recherche, deren Produktion in der Tradition der Brechtschen Verfremdung immer wieder thematisiert wird, indem Fotos die auf einem Stativ befestigte Kamera und die DDR-Filmemacher beim Dreh zeigen, ist ein (nachträglich coloriertes?) Bild, das den Zehnjährigen in brauner HJ-Uniform zusammen mit seiner stolzen Mutter optimistisch in die Zukunft blickend zeigt. Dazu werden historische Foto- und Filmaufnahmen aus dem 2. Weltkrieg, darunter auch Amateuraufnahmen vom Massenmord an polnischen Zivilisten, montiert mit stummen Kamerafahrten an herrlichen Jugendstilfassaden, die freilich nicht nur die im Sozialismus abblätternde Schönheit der Stadt B offenbaren, sondern den großen Einfluss deutschen Bürgertums in der Geschichte dokumentieren.

Damit bricht Peter Voigt ebenso ein Tabu im Defa-Dokumentarfilm wie mit der unmittelbaren Verstrickung der eigenen Familie in den Holocaust: nach offizieller Lesart der SED-Ideologen waren Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den heute von den sozialistischen Brüdervölkern annektierten Gebieten eine notwendige und jedenfalls gerechte Wiedergutmachung für die Verluste in dem von deutschen Faschisten angezettelten Weltkrieg. Außerdem leben im sozialistisch-antifaschistischen Teil Deutschlands heute nur Opfer, die Täter haben zu den Fleischtöpfen der Kapitalisten 'rübergemacht wenn es sich nicht ohnehin („Braunbuch“) um dieselben Leute handelt, die im Tausendjährigen Reich und im konservativ-reaktionären Adenauer-Deutschland bzw. im sozialdemokratisch-antisemitischen Kreisky-Österreich die Macht in den Händen halten.

Seine am 28. August 1987 als Begleitprogramm in den Kinos angelaufene Doku „Stein schleift Schere“, der mit „Schere schneidet Papier“ fortgesetzte Kinderreim zieht sich wie ein Rotes Band durch den Film, ist für Peter Voigt ein „Hier-war-es-Film“ wie die späteren Streifen „Schlachtfelder“, „Knabenjahre“ und „Dämmerung“: Nicht um objektive Geschichtsschreibung gehe es ihm in seinem Zyklus historischer Dokumentationen, sondern um die Spiegelung gesellschaftlich bedeutender Phänomene im Individuellen.

Bertolt Brecht ebenso verhaftet wie dem westdeutschen Filmemacher Eberhard Fechner sei es ihm durch glückliche biographische Umstände gelungen, bei seiner „Annäherung an sich selbst“ stets das Primat der Kunst hochzuhalten – und im Fall „Stein schleift Schere“ keine ideologisch-politischen Scheuklappen anzulegen. Voigt, ein durch jahrelange publizistische Tätigkeit u.a. für die anspruchsvoll-offene, häufig der DDR-Zensur trotzende kulturpolitische Wochenzeitung „Sonntag“, aber auch durch eigene schriftstellerische, vor allem lyrische Arbeiten geschulter Feuilletonist, hat diesem wie vielen anderen seiner Filme in den zum Teil auch selbst gesprochenen Kommentartexten einen eigenen stilistischen Stempel aufgedrückt.

„Wie ein Prinz im Kommunismus“ habe er sich gefühlt, verriet Peter Voigt einmal in einem Interview: Er hatte das Glück, über viele Jahre und sogar die Wendezeit hinaus das exzellent ausgestattete, von der Defa weitgehend unabhängige H & S Studio von Walter Heynowski und Gerhard Scheumann – und deren Kameramann Christian Lehmann – für seine Ideen und Projekte nutzen zu können, wobei er verstärkt die eigene Biographie als Steinbruch für seine Geschichtsfilme nutzte.

Es finden sich weder Belege für eine einschlägig behauptete Uraufführung am 12. Februar 1987 auf der 37. Berlinale, die im übrigen vom 20. Februar bis 3. März 1987 stattfand, noch gar für eine Beteiligung beim 18. Dokfilmfestival im Schweizerischen Nyon. Den Preis der Ökumenischen Jury 1986 erhielt „Ex Voto“ von Erich Langjahr.

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Länge:
553 m, 20 min
Format:
35mm
Bild/Ton:
Orwocolor, Ton
Aufführung:

Uraufführung (DE): 12.02.1987, Berlin, IFF - Panorama;
Kinostart (DD): 28.08.1987

Titel

  • Originaltitel (DD) Stein schleift Schere
  • Weiterer Titel (DD) Dieselbe andere Stadt

Fassungen

Original

Länge:
553 m, 20 min
Format:
35mm
Bild/Ton:
Orwocolor, Ton
Aufführung:

Uraufführung (DE): 12.02.1987, Berlin, IFF - Panorama;
Kinostart (DD): 28.08.1987

Auszeichnungen

IFF Nyon 1986
  • Preis der Ökumenischen Jury
FBW 1986
  • Prädikat: besonders wertvoll