Martha Lehmann

DDR 1972 Kurz-Dokumentarfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
Martha Lehmann, eine einfache Frau, überzeugte Sozialistin, versieht noch im Seniorenalter ihren Dienst in einem kleinen Schrankenwärterhäuschen unweit von Leipzig. Spektakuläres begegnet ihr an der Strecke bis auf wenige Ausnahmen nicht. Zu ihnen gehören Züge mit Kriegsheimkehrern aus der Sowjetunion, weil sie nie die Hoffnung aufgegeben hat, ihr vermisster Sohn Rudi könnte darunter sein, und fröhliche junge Leute, die zu den Weltjugendfestspielen der FDJ fahren. In ihrer vielen freien Zeit während der langen Schichten notiert Martha Lehmann auf kleinen Zetteln alltägliche Dinge vom Wetter über Familiäres bis hin zu Politischem.

„Sie schrieb es für sich. Ihre Mitteilungen hatten keinen Adressaten“ sagt die Kommentarstimme aus dem Off über diese „Sammlung eigenartiger Aufzeichnungen“. Geht es in den letzten Kriegstagen um Brotmangel und Luftangriffe, von denen ihr Arbeitsplatz „Gott sei Dank“ verschont geblieben ist, kreisen ihre Gedanken später um den Verbleib ihres Sohnes und um die Bildung eines sozialistischen deutschen Staates. In dem sich Rudi, vor dem Krieg Literaturobmann in der Leipziger KPD-Parteigruppe, sicherlich wohlgefühlt hätte.

„Hoffentlich kommt kein 3. Krieg“ notiert die Sozialistin mitten im Kalten Krieg zwischen dem kapitalistischen Westen und dem sowjetisch-kollektivierten Osten. Sie behält die Jahreszeiten ebenso im Auge wie den politischen Alltag: „Wie schön hätte es unser Rudi jetzt, da er politisch so begabt war.“ Martha Lehmann dankt dem Staat ausdrücklich, dass sie dank eines neuen Gesetzes als Pensionärin weiterarbeiten darf. Und ist stolz darauf, am 1. Mai 1955 in Taucha auf der Ehrentribüne sitzen zu dürfen.

„Martha Lehmann“ ist vordergründig das erstaunlich facettenreiche Lebensbild einer einfachen, 1971 im Alter von 83 Jahren gestorbenen Frau, die bis zuletzt – später in leichteren Aufgaben ohne Schichtdienst – gearbeitet hat, obwohl ihr Mann und ihre anderen Kinder gut versorgt waren. Sie hat nach den Erfahrungen im Faschismus den Aufbau eines sozialistischen deutschen Staates als persönliche Lebensaufgabe angesehen und fand mit ihren Notizen einen Zugang zur Welt auf ganz individuelle Weise.

Hinter dieser persönlichen Geschichte zeichnet sich das Bild eines im Aufbau befindlichen sozialistischen und antifaschistischen Staates ab, in den offenbar auch der Filmemacher große Hoffnungen setzt. Immer wieder rückt Ernst Thälmann ins Bild, den Marthas verschollener Sohn Rudi einst live bei einer Kundgebung in Leipzig erlebt hat. Eines der wenigen historischen Familienfotos zeigt Rudi im Kreis von Frontkameraden, die zur Ehre des von den Nazis gefangen genommenen und 1944 im KZ Buchenwald umgebrachten Kommunistenführers Ernst Thälmann ihre Wehrmachts-Uniformen ausgezogen haben.

Neben historischem Foto- und Filmmaterial, Notizzetteln und einigen Briefen hat Kameramann Winfried Goldner kurze Filmsequenzen gedreht, in denen die Bahnstrecke, das Schrankenwärterhäuschen und vorbeirauschende Züge zu sehen sind. Diese Bestandteile verdichtet Peter Voigt zu einem nachhaltig beeindruckenden, knapp 14-minütigen Personen- und Zeitporträt, das am 15. Dezember 1972 im Begleitprogramm in den Kinos angelaufen ist.

Peter Voigt, 1933 in Dessau geboren, kam nur kurze Zeit nach seinem Abitur zu Bertolt Brecht ans Berliner Ensemble. Wo er alle Freiheiten genoss, ohne größere eigene Arbeitsaufträge erfüllen zu müssen. Er hospitierte bei Inszenierungen des aus dem Exil zurückgekehrten Meisters und anderer Regisseure, profitierte von Bühnen- und Kostümbildnern und lernte vor allem, Bilder zu hinterfragen: Welche Geschichte steckt – möglicherweise – hinter einem Gemälde, einer Zeichnung oder einer Fotografie?

Nach dem Tod Brechts hatte Voigt die Idee, das Kommunistische Manifest als Animationsfilm zu erzählen – und stellte sich beim Defa-Trickfilmstudio Dresden vor. Dort konnte er mit diesem Projekt zwar nicht landen, durchlief aber als absoluter Autodidakt eine solide handwerkliche Grundausbildung, die ihn später beim Deutschen Fernsehfunk in Adlershof zu einem gefragten Spezialisten für Bildmaterial werden ließ.

Als Walter Heynowski und Gerhard Scheumann unter dem Dach der Defa zwischen 1969 und 1982 das völlig selbständig agierende, modern eingerichtete „Studio H & S“ etablierten, wurden sie auf Peter Voigt aufmerksam. Sie engagierten ihn für Aufgaben in seinem Spezialgebiet, gewährten ihm aber sonst alle Freiheiten, eigene Filme zu drehen. Wofür ihm entsprechend der Sonderstellung des Studios nur erstklassige Leute und ebensolches Material zur Verfügung stand. „Wie ein Prinz im Kommunismus“ habe er sich gefühlt, hat Peter Voigt einmal im Interview gesagt. Der trotz seiner Kürze sehr intensive Schwarz-Weiß-Film „Martha Lehmann“ ist Ausdruck dieser Freiheit: Voigt hat den Film auch geschnitten und mit eigenem Kommentartext unterlegt.

Nach einer politisch motivierten Zäsur konnten Heynowski und Scheumann 1986 ihre Tätigkeit unter dem Namen „Werkstatt H & S“ fortführen – bis zur Wende. Danach nutzte Peter Voigt unter den neuen kapitalistischen Bedingungen ab 1991 freischaffend das Studio und seine exzellenten Mitarbeiter wie den Kameramann Christian Lehmann dank guter Verbindungen zum Sender Freies Berlin (SFB) und dem dann in Straßburg neu gegründeten deutsch-französischen Kulturkanal Arte. So entstand sein wichtigster Nach-Wende-Film, „Der Ort, die Zeit, der Tod“, als Koproduktion der von Lew Hohmann zur Bewahrung der Defa-Tradition gegründeten Tele Potsdam mit dem SFB.

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Länge:
362 m, 13 min
Format:
35mm, 1:1.33
Bild/Ton:
s/w, Ton
Aufführung:

Aufführung (DE): April 1972, Oberhausen, Westdeutsche Kurzfilmtage;
Aufführung (DE): 15.12.1972

Titel

  • Originaltitel (DD) Martha Lehmann

Fassungen

Original

Länge:
362 m, 13 min
Format:
35mm, 1:1.33
Bild/Ton:
s/w, Ton
Aufführung:

Aufführung (DE): April 1972, Oberhausen, Westdeutsche Kurzfilmtage;
Aufführung (DE): 15.12.1972