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Ein jugendlicher Freizeitfilmer reist mit seiner Schmalfilmkamera ins ländliche Thüringen, um dort Bilder von den Dreharbeiten einer Amateurfilmgruppe zu ihrem jüngsten Dorfkrimi auf Schmalfilm zu bannen. Inmitten einer von stoischen Landvermessern, einem Streckenläufer der Reichsbahn und einer singenden Kinderschar bevölkerten Szenerie entstehen Actionszenen und Tieraufnahmen. Nach der Premiere des fertigen Films im Dorfkino kommt es zur Preisverleihung. Den 1. Preis, den "Goldenen Ernst", erhält die Hauptdarstellerin: eine Ziege …
"Der Film bedeutet ziemlich viel für mich, weil der Film eine vollkommen neue Wirklichkeit schafft": Das Bekenntnis des Regisseurs im Film dürfte mit dem Credo des Filmemachers Jochen Krausser übereinstimmen. "Leuchtkraft der Ziege" ist eine surrealistische Persiflage, die aus der Wirklichkeit der DDR des Jahres 1988 herausgefallen zu sein scheint. Ironisch und subversiv spielt Kraußer mit den Konventionen des Kinos und der bildenden Künste, etwa indem er den Regisseur im Film seine Regieanweisungen in die Kamera sprechen und den Maler und Bildhauer Horst Sakulowski ein aus Müllplatz-Fundstücken gebautes "erstes Fahrrad der Welt" präsentieren lässt.
Quelle: 74. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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Ein Moped mit einer nackten Frau, bei der es sich auch um eine künstlerische Skulptur handeln könnte, hält bei einem Bahnübergang mitten auf dem Gleis. Schnitt. Ein Vorortzug verspätet sich, weshalb der Lokführer die Abteile abkoppelt und allein weiterfährt, um die Verspätung wieder aufzuholen. Schnitt. Zwei Reichsbahner machen im Abteil Musik.
Angeblich auf der Burg Gröben, die einst im Osten Thüringens, im heutigen Saale-Holzland-Kreis, existierte, dreht eine Amateurgruppe einen Kriminalfilm. Jochen Kraußer „dokumentiert“ die Entstehung des Projektes und die Dreharbeiten, spricht mit den beiden Regisseuren, die mit einem Strand-Segler in zunehmender Geschwindigkeit erst über Wiesen und dann geradezu halsbrecherisch über die Landstraße bergab sausen.
„Film schafft neue Wirklichkeit“ ist zu vernehmen, aber auch die so skeptische wie – auf die Adlershofer Ablehnung bezogen – prophetische Einsicht: „Der Spaß wird sicherlich nicht von allen Leuten verstanden.“ Zumal der Subjektivismus des Amateurfilms im Widerspruch zum verordneten Sozialistischen Realismus thematisiert wird.
Dann geht’s mit dem selbstironischen Film im Film weiter: Eine kleine Ziege folgt einem Bauern auf dem Feldweg. Laiendarsteller werden geschminkt, Spielszenen mehrfach wiederholt. Bei denen skurrile Selbstbau-Fortbewegungsmittel eine zentrale Rolle spielen. Am Ende begeisterte Publikumsreaktionen bei der Filmvorführung im Dorfkino und, unterbrochen von einer hineingeschnittenen Landung eines Düsenjägers, die Ehrung besagter Ziege mit einem „Goldener Ernst“ genannten Schokoladenhasen für ihre darstellerische Leistung.
Der surreale Kurz-Dokumentarfilm, ein Hybrid mit Spielfilmszenen, ist in ganzer Länge von 19 Minuten wahrscheinlich erst am 29. April 1991 bei den Int. Kurzfilmtagen Oberhausen erstaufgeführt worden – warum auch immer in der Sektion Kinderkino. Denn er ist als subversive Persiflage natürlich für Erwachsene gedacht, wie Ralf Schenk in der „Berliner Zeitung“ (29. September 2005) schreibt: „In (...) ‚Leuchtkraft der Ziege‘ braust eine Lok ohne Wagen durch die Landschaft und ein Mechaniker stellt die Uhr eines Kirchturms zwei Stunden vor. Was das zu bedeuten habe, fragte daraufhin der DEFA-Direktor und gab sich gleich selbst die Antwort: Kann es sein, die Uhr wird auf Moskauer Zeit vorgestellt? Und die Lok, die da allein fährt, ist eine Metapher für Gorbatschow, dessen Politik sich kein anderes sozialistisches Land anschließen will?“
Und im Katalog zur 74. Berlinale, wo „Leuchtkraft der Ziege“ im Februar 2024 in der Reihe „Retrospektive“ gezeigt wurde, heißt es: „Ironisch und subversiv spielt Kraußer mit den Konventionen des Kinos und der bildenden Künste, etwa indem er den Regisseur im Film seine Regieanweisungen in die Kamera sprechen und den Maler und Bildhauer Horst Sakulowski ein aus Müllplatz-Fundstücken gebautes ‚erstes Fahrrad der Welt‘ präsentieren lässt.“
Pitt Herrmann