Leben in Wittstock

DDR 1984 Dokumentarfilm

Inhalt

Fünfter Teil der siebenteiligen "Wittstock"-Langzeitdokumentation von Volker Koepp über das Leben und die Probleme dreier Textilverarbeiterinnen im Volkseigenen Betrieb Obertrikotagen "Ernst Lück" in Wittstock/Dosse: Der vorläufige Abschluss der Reihe mischt in abendfüllender Form Material aus den vorherigen vier Teilen mit aktuellen Aufnahmen aus dem nunmehr 10 Jahre bestehenden VEB und Erzählungen der drei Arbeiterinnen Renate, Edith und Elsbeth, die im Obertrikotagenwerk beschäftigt sind.

Nach der Wende drehte Volker Koepp zwei weitere, zunächst ungeplante Filme über die porträtierten Frauen, die den sechsten und siebten Teil des Zyklus darstellen.

 

 

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Heinz17herne
Heinz17herne
Getreidefelder soweit das Auge reicht. Die Gegend der malerischen Kleinstadt Wittstock an der Dosse ist geprägt von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, der Ort selbst von zwei Kirchen, deren Türme schon von weitem zu sehen sind, einer Stadtmauer und den Resten eines früheren Klosters. Ortsbewohner wie etwa der Bürgermeister oder eine Postangestellte kommen selten zu Wort, aber der letzte Holzschuhmachermeister Brandenburgs, ein noch selbständiger Handwerker, wird in seiner Werkstatt vorgestellt.

1974 wird auf eine kleine Anhöhe vor den Toren der Stadt eine Textilfabrik errichtet. 900 Mitarbeiter aus der ganzen Region werden angeworben, meist ganz jung frisch von der Schule und ohne spezifische Berufsausbildung. Nur die Leiter und die Meister kommen aus bestehenden Textil-Kombinaten, etwa aus Karl-Marx-Stadt. Die Infrastruktur des verschlafenen Ortes kann in den folgenden zehn Jahren mit dem Wachstum der dann mit 2.600 Mitarbeitern zu den größten Trikotageherstellern der DDR zählenden Volkseigenen Betriebes „Ernst Lück“ nicht mithalten – naturgemäß. Auch davon berichtet Volker Koepp, der sein Augenmerk auf eine Jugendbrigade mit achtzig angehenden Textilfacharbeiterinnen richtet und drei von ihnen im Laufe der Zeit beobachtet: Renate, Edith und Elsbeth, genannt Stupsi.

Letztere ist gerade 18 Jahre jung und bereits als Endkontrolleurin eingesetzt. Vor der Kamera Michael Zauschs nimmt sie kein Blatt vor den Mund, kritisiert den – noch – fehlenden Zusammenhalt unter den Arbeiterinnen und eine Fertigungshalle ohne Fenster. Ein wunder Punkt, der wohl nicht ohne Stupsis Beharrlichkeit erst im Sommer 1983 zur allseitigen Befriedigung gelöst wird. Auch die FDJ-Sekretärin Edith räumt ein, als Bandleiterin überfordert zu sein: eine Aufgabe, die eigentlich nur einer Meisterin vorbehalten ist. Mindestens ebenso gefordert ist sie auf einer Versammlung der Jugendschicht: Sabine ist als vom Kollektiv gewählte Schichtleiterin in Abwesenheit von der Betriebsleitung abgesetzt worden. Die Jugendbrigadisten verlangen nicht nur Sabines Wiedereinsetzung, sondern generell mehr Unterstützung durch die Leitung.

Renate schließlich geht die Probleme, etwa im Arbeitsablauf und in der Freizeitgestaltung, nüchterner, aber ebenso offen an: im Gegensatz zu den Mädchen, die sämtlich aus den Dörfern der Region stammen und nach ihren Wechselschichten noch im Bus nach Hause gefahren werden müssen, ist sie als Leiterin von außerhalb angeworben worden – aus Sachsen. Sie wohnt in Wittstock und sagt zur Causa Sabine: „Du wirst gefragt, machst du es oder machst du es nicht. Wenn du nee sagst, musst du es trotzdem machen.“ Ein Arbeitsstil, mit dem die Jugendbrigadisten auf Kriegsfuß stehen. Noch fehlt es fast an allem, auch an Wohnraum. Und die jährliche Kirmes ist beinahe das einzige größere Freizeitvergnügen Wittstocks. „Jedes Mädchen wird 'mal geküsst“ schnulzt ein DDR-Schlagersänger bei der Brigadefeier, auf welcher der Jungs-Mangel sogleich ins Auge fällt.

1976 sind 400 neue Lehrlinge hinzugekommen, das Freizeitangebot hat sich wie die gesamte Infrastruktur des Ortes aber nicht verbessert: „Hier ist alles so eintönig“ kritisiert Elsbeth vor der Kamera Christian Lehmanns. Der diesmal einige junge Arbeiterinnen nach Hause auf die elterlichen Bauernhöfe begleitet. Ihre Ansprüche an ein zufriedenes Leben sind bescheiden, unterscheiden sich kaum von denen ihrer Eltern. Stupsi etwa träumt von der Gründung einer Familie, kann sich aber keinen der in etwa Gleichaltrigen im Ort als Vater ihrer Kinder vorstellen.

Die zweite Produktionshalle steht im Rohbau, aber die Qualitätsmängel, die zu Ausschussware führen, sind noch nicht behoben. Selbstkritisch merken die Protagonistinnen an, dass sie in vielen Dingen gleichgültig geworden sind, nachdem ihre Verbesserungsvorschläge immer wieder im Sande verlaufen sind. Die Planerfüllung Konfektion mit 1.200 Pullovern am Tag ist nicht zu schaffen, auch, weil die Anleitung für Meister und Kontrolleure mangelhaft geblieben ist. Nachdem Edith deshalb die Leitung kritisiert hat, ist sie als Bandleiterin abgesetzt worden. Sie arbeitet nun als Näherin an der Maschine – im Akkord (obwohl dieses dem bösen Kapitalismus zugeordnete Wort in der DDR selbstredend tabu ist, hier spricht man von Normerfüllung, das klingt nach Normalität).

1977 ist die zweite Produktionshalle in Betrieb gegangen, mehr als eintausend Mitarbeiter gehören jetzt zu „Ernst Lück“. Edith ist wieder als Bandleiterin eingesetzt worden, studiert nebenbei für den Meister. Die Werkbereichsleiterin Waltraud Dietz will Edith dazu bringen, an ein neues, anspruchsvolleres Band zu wechseln. Sie traut ihr das „Mehr“ an Verantwortung zu, doch Edith mauert: sie hat sich im vergangenen halben Jahr an „ihrem“ Band etwas aufgebaut, müsste nun wieder ganz von vorn anfangen. Bruni, die Parteisekretärin, spendet Trost, der für Edith keiner ist: „Das geht die ganzen Jahre so, du baust dir was auf, das wird umgerissen. Du baust dir wieder was auf, das wird wieder umgerissen. Das ist eben so.“

Stupsi gibt zu Protokoll, ruhiger geworden zu sein. Sie habe sich genug ausgetobt, bleibe abends lieber daheim, lese etwas, wenn sie nicht zu müde ist, oder malt. Was offenbar mit einigen privaten Enttäuschungen zu tun hat: „Am besten gar keine Bekanntschaften schließen, dann hast du keinen Ärger.“ Auch im Betrieb läuft nicht alles rund, Elsbeth hat Ärger mit dem Meister und ist über die FDJ-Leitung enttäuscht, die sie zu wenig unterstützt. Auch 1978 ist die Fertigungshalle noch fensterlos, aber Edith hat die Leitung des zweiten, anspruchsvolleren Bandes übernommen und ist voll damit ausgelastet, die neuen Kolleginnen unter einen Hut zu bringen. Bisher mussten schon drei Direktoren gehen, Ausdruck dafür, dass die Qualitätsmängel weiterbestehen. Kommentar Volker Koepps aus dem Off: Industriearbeiterschaft in einer bisher reinen Agrargegend, das geht alles nicht so schnell.

1981 entstehen weitere Neubauten für die Produktion – und endlich neue Wohnheime für die Mädchen, die nun aus einem großen Radius, der bis in die Hauptstadt Berlin reicht, kommen. Edith ist jetzt Obermeisterin, hat sich verlobt und wohnt in Pritzwalk. 11.700 Stück Obertrikotagen werden nun täglich produziert, der neu eingesetzte Leiter macht im Blick auf die Fehler der Vergangenheit offenbar vieles richtig – und zieht sich im Interview auf die üblichen nichtssagenden Worthülsen zurück. Edith und Stupsi haben geheiratet, Familien gegründet und Neubauwohnungen bezogen. Die Mädchen von einst, dem Betrachter längst ans Herz gewachsen, sind erwachsen geworden, übernehmen beruflich wie privat Verantwortung. Und sind zufrieden mit sich und ihrer kleinen Welt, die bis auf die Urlaubswochen aus „Ernst Lück“ besteht: der hat im Sommer 1983 die Auszeichnung „Bester Kombinatsbetrieb“ bekommen und wirft nun täglich 24.400 Trikotagen auf den Markt. Renate und Edith sind Obermeisterinnen, Waltraud Dietz ist Kommunalpolitikerin und gehört zur Kombinatsleitung, die Produktionshallen haben Fenster bekommen und in der Freilichtbühne gibt die DDR-Gruppe „Pankow“ ein Rockkonzert.

„Leben in Wittstock“ wartet zwar nach wie vor mit düsteren Schwarzweiß-Bildern einer grauen DDR-Provinz-Tristesse auf, unterlegt mit entsprechend stimmungskillender Musik, schließt aber ein positives Fazit nach zehnjähriger Beobachtung: Vieles hat sich erfreulich entwickelt, beruflich wie privat, sodass die Protagonisten kaum Wünsche äußern können, die noch unerfüllt geblieben sind. Ein Trabi vielleicht, aber auch hier bleiben die immer noch jungen Frauen realistisch: ein Volvo käme ohnehin nicht in Frage. Und andere Sehnsüchte wie Reisen ins kapitalistische Ausland werden erst gar nicht thematisiert.

„Leben in Wittstock“ war als Abschlussfilm geplant, ihm folgten mit „Neues in Wittstock“ (1992) und „Wittstock, Wittstock“ (1997) noch zwei weitere Dokumentationen nach der Wiedervereinigung. Der VEB Obertrikotagenbetrieb „Ernst Lück“, der auch für den West-Export gearbeitet hat, ist von der Treuhand abgewickelt worden und heute nur noch Kulisse für die sommerliche „Rohkunstbau“-Ausstellung Berliner und Brandenburger Künstler.

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Länge:
2318 m, 85 min
Format:
35mm, 1:1,33
Bild/Ton:
Orwocolor, Ton
Aufführung:

Aufführung (DD): 26.11.1984, Leipzig, Internationale Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche;
Kinostart (DD): 11.01.1985

Titel

  • Originaltitel (DD) Leben in Wittstock
  • Weiterer Titel (DD) Wittstock Life
  • Weiterer Titel (DD) Auch mein Betrieb

Fassungen

Original

Länge:
2318 m, 85 min
Format:
35mm, 1:1,33
Bild/Ton:
Orwocolor, Ton
Aufführung:

Aufführung (DD): 26.11.1984, Leipzig, Internationale Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche;
Kinostart (DD): 11.01.1985

Auszeichnungen

Leipziger Kurz- und Dokumentarfilmwoche 1984
  • Silberne Taube, Filme über 35 Minuten
1984
  • DDR-Prädikat: Besonders wertvoll