In Berlin 16.10.89-4.11.89

DDR 1989/1990 Dokumentarfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
In den entscheidenden Tagen der „Wende“ hat sich die Gruppe document des Defa-Studios für Dokumentarfilme erst spät dazu durchgerungen, ohne konkreten Auftrag der Studioleitung und ohne festes Drehbuch drei Teams zu den demonstrierenden Bürgern zu schicken – nach Berlin, nach Dresden und nach Leipzig. Von den Anfängen der Montagsdemonstrationen in Plauen hatte man bei der Defa gar nichts mitbekommen, als in der sächsischen Metropole das Kind schon in den Brunnen gefallen war: Übergriffe und Provokationen auf beiden Seiten der gar nicht errichteten Barrikaden.

Während nur kleinere Teams nach Leipzig und Dresden fahren konnte, war der Weg von Babelsberg nach Berlin nur ein Katzensprung: Mehr als zwanzig Namen von Mitwirkenden tauchen gleichberechtigt im Abspann auf. Wesentlich am Entstehungsprozess des 65-Minüters beteiligt waren der 1941 in Zwickau geborene Jochen Denzler, der nach einem Kamerastudium 1971 zum Defa-Studio für Dokumentarfilme ging und dort zwanzig Jahre lang bis zur „Abwicklung“ genannten skandalösen Zwangsauflösung des Studios und seiner Arbeitsgruppen arbeitete. Und Hans Wintgen, 1949 in Falkensee geborener Betonbauer mit Abitur und Sonderpädagogik-Studium, der anschließend ein Regiestudium an der HFF in Babelsberg absolvierte und 1981 als Regisseur bei der Defa bis zum Ende zehn Jahre später arbeitete.

Mit dem Kerzenmeer vor und einer Fürbittandacht in der überfüllten Rummelsburger Erlöserkirche beginnt „In Berlin“: der Pfarrer appelliert an die Besonnenheit der Sicherheitsorgane und bittet den Oberbürgermeister, eine Untersuchungskommission zu den Übergriffen der Polizei und eines Wachregiments, die in einer ganzen Reihe von Fotos dokumentiert sind, einzusetzen. Demonstranten berichten von unmenschlicher Behandlung durch die Staatsgewalt, gestehen aber auch Beeinflussung durch westliche Medien ein. Im Erich Franz Club soll eine Diskussion stattfinden, aber im Fernsehen läuft gerade eine Ansprache von Egon Krenz, welche die ganze Aufmerksamkeit der jungen Leute auf sich zieht: Krenz, als Vorsitzender der Wahlkommission verantwortlich für die offenbar gewordenen Fälschungen des letzten Urnengangs, ist nicht der Mann, der für eine Erneuerung von Partei und Staat steht - da sind sich alle einig.

Demonstration vor der Volkskammer der DDR am Seiteneingang des Palastes der Republik. „Neues Forum“ skandieren die Bürger, „Jetzt oder nie – Demokratie“, „Gorbi“-Rufe sind hörbar und „Wir sind das Volk“. Aber auch: „Schwarzer Kanal – heute zum letzten Mal“: Karl Eduard von Schnitzler war als ideologischer SED-Wadenbeißer noch nie beim Volk beliebt und von medialem Einfluss höchstens im westfernsehfreien sächsischen „Tal der Ahnungslosen“. Dieser als Witzfigur wahrgenommene Agitator steht paradigmatisch für das staatlich gelenkte Fernsehen der DDR. Günter Schabowski, ehemaliger Chefredakteur des SED-Parteiorgans „Neues Deutschland“ und aktueller Vorsitzender des SED-Bezirksleitung Berlin, müht sich draußen vergebens, den Volkszorn zu beruhigen. Mit Beschwichtigungen und aus der blanken Not geborenen halbgaren Rückzugsgefechten gibt’s für die Funktionäre keinen Blumentopf mehr zu gewinnen.

Die Filmemacher sprechen mit „Zugeführten“, die nicht etwa aus einer Demonstration heraus verhaftet worden sind, sondern aus ihren Wohnungen geholt wurden – ohne jede Begründung. Und das nicht durch die Volkspolizei, sondern durch ein hauptstädtisches Wachregiment der Nationalen Volksarmee: das Gefühl der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins hat sich bei allen fest eingebrannt. Nun gehe es darum, die politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen: prügelnde Polizisten und Soldaten seien ja nur als ausführende Organe und eigenen Zwängen unterlegen.

Susanne Böden steht im Prenzlauer Berg vor einem Bezirksgericht. Vorwurf: Herabsetzende Äußerungen gegenüber dem Staat. Es ist eine Berufungsverhandlung: die junge, kaum volljährige Frau wurde für eine Flugblattaktion zu dreimonatiger Haft verurteilt. Ihre Rechtsanwältin zerpflückt die Argumentation der Staatsanwältin mit nachweisbaren Fakten staatlicher Gewalt, die im Flugblatt verurteilt wurden. Nachdem die Staatsanwältin bekundet, dass kein gesellschaftliches Interesse am Vollzug des Urteils besteht, wird dieses keineswegs eingestellt. Susanne Böden fällt später vielmehr unter eine allgemeine Amnestie, was für sie Erleichterung bedeutet, aber keine Lösung darstellt. Andererseits fehlen ihr Zeugen für die Misshandlung durch gleich drei Volkspolizisten und ihre Anwältin rät dazu, das Verfahren nicht wieder aufzunehmen.

Menschenkette rund um den Alexanderplatz, gefilmt aus dem Auto heraus, das den Schriftzug Defa-Studio für Dokumentarfilm trägt. Dreitausend Besucher bringen die nur über 500 Sitzplätze verfügende Erlöserkirche an der Nöldnerstraße förmlich zum Platzen: Sie demonstrieren mit mehr als 50 Künstlern gegen die Übergriffe und Verhaftungen der Volkspolizei. Am 4. November dann die große Demonstration der Schauspieler des Deutschen Theaters – von Käthe Reichel bis Peter Reusse klare Bekenntnisse für eine neue Freiheit. Übrigens angemeldet vom Rechtsanwalt Gregor Gysi – das ging plötzlich. Was übrigens nicht ging und durch weiße Stellen in der Gerichtsszene bei weiterlaufendem Ton markiert ist: fliegender Filmkassettenwechsel in der 35 mm-Kamera.

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Länge:
1771 m
Format:
35mm, 1:1,33
Bild/Ton:
s/w, Ton
Aufführung:

Uraufführung (DE): 28.11.1989, Leipzig, IFF;
Aufführung (DE): 10.02.1990, Berlin, IFF - Forum

Titel

  • Originaltitel (DD) In Berlin 16.10.89-4.11.89
  • Arbeitstitel (DD) Aktuelles Berlin

Fassungen

Original

Länge:
1771 m
Format:
35mm, 1:1,33
Bild/Ton:
s/w, Ton
Aufführung:

Uraufführung (DE): 28.11.1989, Leipzig, IFF;
Aufführung (DE): 10.02.1990, Berlin, IFF - Forum