Die verdammten Toscaner

DDR 1975/1976 Kurz-Dokumentarfilm

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Heinz17herne
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Die Hallstein-Doktrin und der damit verbundene Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik war im Zuge der neuen Ostpolitik der Bundesregierung unter Kanzler Willy Brandt kassiert, Italien nahm diplomatische Beziehungen zur DDR auf – und Karl Gass reiste gut zehn Jahre nach „Licht für Palermo“ erneut in den „roten“ Süden, diesmal jedoch in die Toscana statt nach Sizilien. Während sich in Italien die Partito Comunista Italiano (PCI) inzwischen vom Moskauer Diktat befreit hatte und zusammen mit den französischen Genossen als „Euro-Kommunisten“ einen eigenständigen unideologischen Kurs steuerte, mit dem die moskautreue Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) nicht einverstanden sein konnte, ja als Gefahr für die eigene Stabilität ansehen musste, fand Karl Gass in der Toscana noch die alte Garde vor, mit der Uwe Belz wenige Jahre zuvor die Kurz-Dokumentationen „Toscana Rosso“ und „Giovanni Boccaccio“ gedreht hatte.

Im Auftrag des Fernsehens schuf Karl Gass mit seinen Kameraleuten Werner Heydn und Peter Milinski die knapp 50-minütige Dokumentation „Die grüne, weiße, rote Toscana“, produziert von der Gruppe Effekt des Defa-Studios für Kurzfilme (PL Werner Krüger), die am 16. April 1975 im Fernsehen der DDR erstausgestrahlt worden ist. Für den Einsatz im Kino (-Beiprogramm) wurde daraus unter der Produktionsleitung von Günter Bronn eine 30-minütige Version destilliert, die am 5. März 1976 unter dem Titel „Die verdammten Toscaner“ angelaufen ist. Der Begriff „Uraufführung“ erscheint mir daher zu hoch gegriffen.

Einem Panorama-Blick vom Belvedere des Palazzo Pitti über Florenz folgt eine touristische Stadtführung mit Hinweisen auf die Architektur, die Kunst und die Protagonisten der Renaissance - Dante, Michelangelo und Leonardo da Vinci. Kaleidoskopartig werden weitere Perlen wie Pisa und Siena auf die toskanische Kette gereiht und historischen Gemälden aus dem 15. und 16. Jahrhundert gegenübergestellt. Zusammen mit dem Hinweis, dass nach den Kommunalwahlen im Juni 1975 die PCI mit der absoluten Mehrheit von 56 Prozent im Rathaus „der schönsten Stadt der Welt“ regiert, wird das traditionelle Pferderennen „Palio de Siena“ auf der Piazze del Campo gezeigt. Ein nicht nur für Mensch und Tier gefährliches Spektakel, sondern auch „ein blankes Geschäft, mit List und Betrug und Bestechung“, wie sich Karl Gass als Sprecher vernehmen lässt.

In den Marmorbrüchen von Carrara ist harte körperliche Arbeit angesagt, die von klassenbewussten Arbeitern, sämtlich ehemalige Partisanen gegen die Faschisten, verrichtet wird. Noch gibt es Heim- und sogar Kinderarbeit, aber, wie die Genossenschaft der Glasbläser in Pisa zeigt, auch eine Alternative zur kapitalistischen Ausbeutung. „Manifesto Rosso“: Die Faschisten haben nach wie vor keine Chance in der Toscana – und die Kirche hat es schwer. Städtische Krippen und Kindergärten sorgen, so der Sprecher, für einen sachlichen, liebevollen und demokratischen Umgang im Gegensatz zum dogmatischen Klerus. Später wird ein Pfarrer in San Marco von der zum Überleben notwendigen Abgrenzung der Kirche von der christdemokratischen Partei sprechen.

Die im einzigen weißen Flecken der roten Toscana regiert, in Lucca. Sogleich werden wieder klassenbewusste Werftarbeiter in Livorno und antifaschistische Stahlarbeiter in Piombino präsentiert: „Die Stahlwerker von Piombino, ihr Werk ist rot, ihre Stadt ist rot, ihre Toskana ist rot. Ihre Wachsamkeit gegenüber dem Italien erneut bedrohenden Faschismus ist bestimmend für ihren politischen und sozialen Kampf.“ Nicht gänzlich unterschlagen kann Karl Gass die Armenviertel, relativiert jedoch sogleich aus dem Off: „Aber auch rote Kommunen und rote Regionen werden nicht die Mittel haben diese Wohnverhältnisse zu verbessern, die Mieten zu senken, die sanitären Einrichtungen zu modernisieren, große Sportanlagen zu schaffen, Schwimmbäder und Schwimmhallen zu bauen für alle, und Konzertsäle und Kunsthallen und Theater. Die Mittel hält die Zentralgewalt und die ist noch nicht rot.“

Manfred Lichtenstein anlässlich einer Retrospektive des Staatlichen Filmarchivs der DDR im Rahmen der 32. Int. Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche 1989: „Es ist ein Anti-Tourismus-Film, der Reisefilm eines engagierten sozialistischen Künstlers, der in einer der landschaftlich und architektonisch schönsten Gegenden Italiens Antwort darauf sucht, wie die einfachen Menschen, die Arbeiter, dort leben. Es ist ein informativer, aber durchaus unterhaltsamer Film geworden. Die schwierige soziale Lage der Bevölkerung wird gezeigt, ebenso Widerstand und Kampf dagegen, vor allem der KPI.“

Stephan Ahrens, Doktorand der Filmwissenschaften, bei einer Vorführung Mitte Dezember 2021 im Berliner Zeughauskino im Anschluss an „Licht für Palermo“ von Karl Gass: „Für Politik und insbesondere für die Stellung der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) interessiert sich auch sein über zehn Jahre später entstandener Film ‚Die verdammten Toscaner‘. Ob hier der Regisseur ‚einer souveränen, frei gewählten, intensiv vertretenen politischen Grundauffassung‘ (Erika Richter) folgte oder den kulturpolitischen Schulterschluss mit einem DDR-treuen Flügel der sich spaltenden PCI suchte, lässt der Film offen.“

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Länge:
820 m
Format:
35mm
Bild/Ton:
Orwocolor, Ton
Aufführung:

Erstaufführung (DD): 05.03.1976

Titel

  • Originaltitel (DD) Die verdammten Toscaner

Fassungen

Original

Länge:
820 m
Format:
35mm
Bild/Ton:
Orwocolor, Ton
Aufführung:

Erstaufführung (DD): 05.03.1976