Die letzte Chance

DDR 1962 TV-Spielfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
Der Westen leuchtet – jedenfalls nach Einbruch der Dunkelheit durch die Neonreklamen der Geschäfte. Mit einer Kamerafahrt Otto Hanischs durch die Einkaufsmeile einer ungenannten bundesdeutschen Stadt beginnt die 77-minütige Adaption des 1961 im Mitteldeutschen Verlag in Halle an der Saale erschienenen Romans „Das Gesicht mit der Narbe“ von Herbert Ziergiebel (1922-1988), der auf seiner bereits 1955 edierten autobiographischen Kurzgeschichte „Die Flucht aus der Hölle“ basiert.

Schnitt. Der renommierte Hamburger Pianist Hans Seiser verbeugt sich im Anschluss an einen Konzertabend vor dem Steinway-Flügel. Im begeistert applaudierenden Publikum entdeckt er ein Gesicht, das die Narbe einer Mensur trägt – und dass sich bei ihm wie kein zweites eingeprägt hat: in dem erfolgreichen Fleischfabrikanten Dr. Becker entdeckt er den für die Gestapo tätigen SS-Obersturmführer, der ihn 1943 als regimekritischen Musikstudenten verhaften und wegen Hochverrats anklagen ließ. Hans Seiser ist sich ganz sicher: diesem „Mann mit der Narbe“ ist er in endlosen Verhören mit körperlichen Folterungen ausgeliefert gewesen.

Der Pianist erstattet Anzeige bei der Polizei. Entgegen seiner Erwartung einer unverzüglichen Verhaftung Beckers erläutert der Kommissar das langwierige rechtsstaatliche Prozedere in Westdeutschland, für an willkürliche politische Verfahren und Sippenhaft gewohnte DDR--Fernsehzuschauer knapp ein Jahr nach der Errichtung des „antifaschistischen Schutzwalls“ (Erstausstrahlung am 9. September 1962 im Deutschen Fernsehfunk) eine gänzlich neue Erfahrung: Ausführlich soll Hans Seiser das Geschehen schildern und seine Anklage gegen Dr. Becker begründen. Dann müsse die Gegenseite angehört werden. Erst danach könne die Justiz über die Erhebung einer Anklage entscheiden.

Rückblende. 1943 ist der junge Berliner Musiker Hans Seiser bei der Frontbetreuung der Wehrmacht im Elsass tätig. Wegen eines Flugblattes wird er von der Gestapo verhaftet und in Mühlhausen ins Gefängnis gesteckt. Seine Zellengenossen sind Hans Schneider, ein aufgrund des aussichtslosen Kampfes desertierter U-Boot-Matrose, und der Antifaschist Karl Bender. Letzterer gibt ihm wertvolle Tipps zur Flucht nach sechsmonatiger Haft aus dem Fenster des Gestapo-Hauptquartiers.

Hans verbringt die erste Nacht in Freiheit in einem Heuschober, wo er von der kleinen Franziska (bereits die zweite Rolle der siebenjährigen Katharina Thalbach in einem Kasprzik-Film) entdeckt wird. Die Bauern (Heinz Scholz und Else Wolz) haben mit den deutschen Besatzern nichts am Hut und helfen ihm weiter, möglichst unentdeckt die Schweizer Grenze zu erreichen. So schafft er es bis zum Gasthof „Zur Sonne“, wo er mit Maria auf eine Seelenverwandte stößt: die Bedienung studierte bis zum Kriegsausbruch Klavier am Hamburger Konservatorium. Als sie Seisers Porträt in der Zeitung entdeckt, hilft sie dem „flüchtigen Hochverräter“ weiter. Doch ihr Onkel, der Wirt (Werner Schulz-Wittan), greift zum Telefonhörer.

Woraufhin SS-Obersturmführer Becker einen ehrgeizigen SS-Scharführer (Jochen Diestelmann) auf Seisers Fährte schickt. Scheinbar zu spät, denn der hat bereits die Holztafel „Deutsche Reichsgrenze“ im Blick. Doch er scheut im letzten Moment das Risiko und wartet die Nacht bei einem Bauern (Karl Kendzia) ab. Dessen Enkel Xaver (Norbert Martin) aber ist bei der Hitlerjugend und alarmiert die Gendarmerie. Als Hans Seiser nach Mitternacht besagte Holztafel passiert, wähnt er sich in Sicherheit – und landet in einem vorgeschobenen Unterstand der Wehrmacht. Becker triumphiert – und sorgt für den Transport nach Dachau…

Schnitt. Als der KZ-Überlebende Hans Seiser seine Ausführungen beendet hat, hofft er vergeblich auf eine schnelle Reaktion des Kommissars. Der will zunächst nach Zeugen suchen, die Seisers Angaben bestätigen, bevor er den gut vernetzten Konservenfabrikanten und Stadtverordneten Dr. Becker mit den Anschuldigungen konfrontiert. Allerdings macht er dem Musiker wenig Hoffnung - als Mitglied der VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes) und damit einer Organisation, der Verfassungsfeindlichkeit vorgeworfen wird…

Hintergrund waren zwei gescheiterte Verbotsverfahren 1951 und 1959 in der Bundesrepublik. Das zweite scheiterte vor dem zuständigen Bundesverwaltungsgericht krachend: dessen Präsident Fritz Werner, zugleich Vorsitzender Richter des Verfahrens, wurde ebenso als NS-Jurist enttarnt wie der Anwalt der Bundesregierung, Hermann Reuß. „Die letzte Chance“ gehört zu den Filmen, die nach dem Mauerbau ein düsteres Bild vom Rechtsstaat im Kapitalismus zeichnen, steht auf der anderen Seite aber auch in der großen Tradition antifaschistischer Defa-Filme, die weitgehend ohne falsches Pathos auskommen. Hans-Joachim Kasprzik verlegt die Romanhandlung von Innsbruck ins Elsass und erweitert damit den Raum vom Reich in besetztes Gebiet. Bewusst lässt er Details wie den biographischen Hintergrund der Figur Karl Bender offen: Warum dieser im Gestapo-Gefängnis sitzt spielt keine Rolle, wichtig ist allein seine aufrechte Haltung – auch unter Folter.

Pitt Herrmann

Credits

All Credits

Titles

  • Originaltitel (DD) Die letzte Chance
  • Arbeitstitel (DD) Der letzte Satz

Versions

Original

Duration:
2193 m, 77 min
Format:
35mm, 1:1,33
Video/Audio:
s/w, Ton
Screening:

Uraufführung (DD): 09.09.1962, DFF