Aschermittwoch

DDR 1989 Kurz-Dokumentarfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
Berlin, Prenzlauer Berg 1989: Als es draußen noch dunkel ist, hat für Angelika Wettstein längst ein langer Tag begonnen. Die sechsfache alleinerziehende Mutter, die 1973 geheiratet hatte und sich 1988 nach der Scheidung erstmals eine Arbeit suchen musste, hat Frühschicht in der HO Kaufhalle an der Pappelallee. Sie steht um 5 Uhr auf, weckt um 6.30 Uhr die Kinder und verlässt zehn Minuten später Haus. Von der Stargarder Straße ist es nicht weit zum Arbeitsplatz, mit ein Grund für ihre Bewerbung dort.

Stefan, Beatrice, Nadine, Sebastian, Christine und Stefanie organisieren sich weitgehend selbst. Sebastian, der jüngere ihrer beiden Söhne, bringt Christine in den Kindergarten, die anderen gehen nach dem gemeinsamen Frühstück am Küchentisch direkt in die Schule. Die Kinder im Alter zwischen fünf und 14 Jahren müssen ihrer Mutter später die erledigten Schulaufgaben zeigen, wenn diese von der Arbeit kommt: um 18 Uhr gibt’s Abendessen, um 20 Uhr ist kollektive Bettruhe.

Einfach ist das Leben der Familie Wettstein nicht, aber frei von materiellen Sorgen: Angelika erhält monatlich zwischen 800 und 900 Mark Lohn, dazu 750 Mark Kindergeld und 570 Mark Alimente. Für größere Rücklagen oder Anschaffungen reichts freilich nicht, so bleiben Wünsche wie Kinderzimmer-Ausstattungen, eine neue Couchgarnitur – und einmal Urlaub ohne die Kinder.

Während Christian Lehmanns Kamera durch die Kaufhalle, einen modernen Flachbau, schwenkt und immer wieder an Angelikas Kasse verharrt, gibt sie aus dem Off preis, dass sie als Kassiererin auch saubermachen und auspacken muss. Aber im Grunde genommen mit der Arbeit zufrieden ist: „Ja, einige kannten mich als Kundin, ich kannte wiederum einige Verkäuferinnen. Ist nicht eintönig, ist immer was anderes, jeden Tag was Neues, das ist doch ganz interessant, obwohl es auch eine sehr stressige Arbeit ist. Freitagsabends in der Spätschicht ist man total fertig.“

In ungewöhnlicher Offenheit spricht Angelika Wettstein über die Mangelwirtschaft selbst in der Hauptstadt: „Wo wir großen Ärger hatten war, als es vor Weihnachten keine Apfelsinen gab oder wenn es nicht genug Bier gibt im Sommer, weil die Brause vielleicht alle ist. Es gibt Tage, da hat man keine Brause oder keinen Selter, da gibt es schon manchmal Ärger. Dann kommen so Worte vor wie ‚scheiß Osten‘, es gibt Kunden, die das machen. Ich habe Verständnis, beruhigen kann man sie nicht, wenn sie einmal im Brass sind, dann bleiben sie es, am besten ist, man sagt gar nichts.“

Für gesellschaftliches Engagement fehlt ihr die Zeit, letztlich aber auch das Interesse. Nur wenn Kinder zu Themen aus dem Unterricht Fragen haben, setzt sie sich mit ihnen auseinander. Aktuell gings in Staatsbürgerkunde bei Stefan um die persönlichen Pflichten eines DDR-Bürgers, wenn er mit dem 18. Geburtstag volljährig wird. Seine Mutter meint: „Das man regelmäßig arbeiten geht. Das Wichtigste ist arbeiten zu gehen, um vernünftig und ordentlich zu leben.“

Faschingsfeier mit den Kolleginnen. Nach einer Dessous-Modenschau, bei der Angelika Wettstein Bauklötze staunt, wird getanzt und offenbar, wie der Heimweg zeigt, ordentlich gezecht. Aber am nächsten Morgen geht’s wieder in die Kaufhalle. Sie spricht über ihren jüngeren Sohn, der sich im Ferienlager als Fußballtalent entpuppt hat und zu einem zehntägigen internationalen Turnier nach China eingeladen wurde. Reich beschenkt sei Sebastian nach Berlin zurückgekehrt – und mächtig stolz. Kurz vor Dienstschluss noch eine ärgerliche Fehlbuchung: ein Kunde kann die im Wagen verstauten Waren nicht bezahlen…

„Aschermittwoch“ von Regisseur Lew (Hans-Jürgen) Hohmann und Ko-Autor Jochen Wisotzki entstand zu einer Zeit, in der sich zumindest gravierende politische Änderungen in der DDR abzeichneten, wenn auch niemand mit dem tatsächlichen Mauerfall wenig später rechnete. Den Titel wählten die beiden Defa-Dokumentaristen der Gruppe „document“ als Metapher für diese von immer mehr Bürgern eingeforderten Veränderungen.

Die HO-Kaufhalle an der Pappelallee wurde 2019 abgerissen. An ihrer Stelle entstanden, in unmittelbarer Nähe zur S-Ringbahn, Wohnungen – und im Erdgeschoss ein Supermarkt. Uraufgeführt am 25. November 1989 auf der 32. Internationalen Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche für Kino und Fernsehen und dort mit dem Preis der Internationalen Demokratischen Frauenföderation ausgezeichnet, lief die Dokumentation am 19. Januar 1990 als Kino-Begleitfilm an.

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Länge:
532 m, 19 min
Format:
35mm
Bild/Ton:
s/w, Ton
Aufführung:

Erstaufführung (DE): 25.11.1989, Leipzig, IFF;
Aufführung (DD): 19.01.1990

Titel

  • Originaltitel (DD) Aschermittwoch
  • Weiterer Titel (DD) Kassiererin

Fassungen

Original

Länge:
532 m, 19 min
Format:
35mm
Bild/Ton:
s/w, Ton
Aufführung:

Erstaufführung (DE): 25.11.1989, Leipzig, IFF;
Aufführung (DD): 19.01.1990