Berlin-Milieu. Ackerstraße 1973

DDR 1973 Dokumentarfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
Veronika Otten hat seit den 1970er Jahren rund sechzig Dokumentarfilme über Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, aber auch zu architektonischen und städtebaulichen Themen für die beim Staatl. Filmarchiv der DDR angesiedelte Staatliche Filmdokumentation gedreht. Bei Letzteren handelt es sich überwiegend um Kurzfilme, sodass „Berlin Milieu – Ackerstraße“ mit einer abendfüllenden Länge von 83 Minuten eine Ausnahme bildet.

Erste Gesprächspartnerin ist eine alte Dame, die seit ihrer Kindheit in der Ackerstraße 18 lebt, einem großbürgerlichen Haus in Privatbesitz seit 1876, was eine große Seltenheit ist. Sie blickt zurück auf die Anfänge eines sehr lebendigen Kiezes, der 1752 aus Ackerland angelegt wurde: Schmale Fünf-Fenster-Fronten vorn, dahinter im Volksmund „langes Handtuch“ genannte Grundstücke. Friedrich der Große hatte das Land und dazu auch noch Baumaterial gespendet und die aufgenommenen Hypotheken später in Geschenke umwandeln lassen.

Aus dem Vogtland wurden hier nach dem Siebenjährigen Krieg Weberfamilien angesiedelt, die sich in den Hinterhöfen mechanische Werkstätten einrichteten. Die Ackerstraße war einst geprägt durch eine hohe Dichte unterschiedlichster Geschäfte, durch Werkstätten und Betriebe in den Hinterhöfen sowie durch stark frequentierte Veranstaltungsorte wie die Borussia-Säle oder der Weißbier-Ausschank mit Gastgarten. Die spätere Markthalle war ursprünglich ein Altwarenhandel und die Molkerei verarbeitete auch die Milch von zwanzig Kühen in eigenen Ställen – mitten in der Stadt. Für reges Leben auf der Ackerstraße sorgten zudem Bauern aus dem Berliner Norden, die auf dem Pappelplatz ihre Waren offerierten.

Die Regisseurin, im Vorspann unter „Redaktion“ firmierend, spricht mit heutigen Bewohnern, aber auch den Handwerkern und Gewerbetreibenden in den Hinterhöfen. So mit einem schon recht betagten Schmied, dessen Arbeiten aber so stark nachgefragt werden, dass er nicht an den Ruhestand denkt. Er beklagt, dass das alte Berlin, das Zille-Milljöh, zwar zwei Weltkriege überstanden habe, nicht aber die Neubaupolitik der DDR. Die in beklagenswertem Zustand befindlichen Altbauten werden, bei nur vierzig Mark Wohnungsmiete, verstärkt von jungen Leuten bewohnt, die keine Chance auf eines der begehrten, weil komfortablen Arbeiter-Schließfächer in den Neubaugebieten an der östlichen Peripherie der Hauptstadt haben.

Früher, so räumen Bewohner offen ein, war die Einkaufssituation im Kiez deutlich besser, wofür auch der attraktive Branchenmix der Invalidenstraße beitrug, welche sich kaum hinter der mondäneren Friedrichstraße zu verstecken brauchte. Die Kameraleute Roland Worel, der die 1970 ins Leben gerufene Staatl. Filmdokumentation der DDR nach rund dreihundert Dokumentationen 1986 auflöste, und Dieter Schönberg rücken immer wieder verblasste Geschäftsschilder an den bröckelnden Fassaden oder (Persil-) Reklameflächen an den Brandmauern der Häuser ins Blickfeld. Und das Altdeutsche Ballhaus, letztes Relikt eines einst lebendigen Unterhaltungsquartiers, auf das nur noch Aufschriften wie „Fest-Säle und Stehbierhalle“ Zeugnis ablegen.

Die Zeit scheint hier nach Kriegsende 1945 stehengeblieben zu sein, Spuren des verbittert geführten „Endkampfes“ um die „Reichshauptstadt“ sind überall sichtbar. Immerhin sprießt frisches Grün in kleinen, in Privatinitiative gärtnerisch genutzten Flecken. Auf der anderen Seite zugemüllte Wohnungen in scheinbar noch kriegszerstörten Häusern: das asoziale Milieu der Ackerstraße wird ebenso wenig verschwiegen wie ein immer noch von der Polizei gesuchter Sittlichkeitsverbrecher. Offene Worte des Genossen Abschnitts-Bevollmächtigter: Viele Menschen stehen noch nicht hinter dem Staat, auch, weil sie in alten, beengten Wohnverhältnissen leben müssen. Die DDR kann den Bedarf an Ausbauwohnungen nicht befriedigen. Dabei gibt es durchaus auch hier im Kiez Wohnraum auf dem West-Niveau der 1970er Jahre mit grellen Pop-Art-Tapetenmustern, Badewanne, Toilette in der Wohnung und viel Platz für Kinder.

Bei einer Hauspflegerin der Volkssolidarität steht der soziale Aspekt im Vordergrund: für 2,22 Mark Stundenlohn kümmert sie sich um fünf Patienten, für die sie einkauft, kocht, wäscht und putzt. Und dann ein Kapitel, dass nur in einer Dokumentation möglich ist, die nicht für öffentliche Vorführungen vorgesehen ist: Veronika Otten spricht mit Grenzschützern der Nationalen Volksarmee. Die Mauer, die hier sogar einen Friedhof in Ost und West zerteilt, ist allgegenwärtig. Ein Hauptmann versichert, sich auf die Mithilfe der „Grenzbevölkerung“ verlassen zu können „zur Verhütung von Grenzverletzungen“.

Ein 1971 aus Karl-Marx-Stadt zugezogener Genosse, der von seinem Wohnzimmerfenster über den Mauerstreifen hinweg auf den französischen Sektor West-Berlins blicken kann, spricht von Provokationen gegen die NVA-Grenztruppen durch westliche Mauer-Touristen, die von einem Holzpodest aus die östliche Seite des „Schutzwalls“ einsehen können. Zum Schluss gibt’s Ringelpiez mit Anfassen auf dem Hausgemeinschaftsfest Ackerstraße 150/151 samt Aktivisten-Ehrungen und einer Plakette für die Beherbergung auswärtiger Gäste im Sommer 1973 während der X. Weltjugendfestspiele in Berlin.

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Länge:
894 m, 82 min
Format:
16mm
Bild/Ton:
s/w, Ton
Aufführung:

Aufführung (DE): April 2017, Dortmund/Köln, Frauenfilmfestival

Titel

  • Originaltitel (DE) Berlin-Milieu. Ackerstraße 1973

Fassungen

Original

Länge:
894 m, 82 min
Format:
16mm
Bild/Ton:
s/w, Ton
Aufführung:

Aufführung (DE): April 2017, Dortmund/Köln, Frauenfilmfestival