Das Cabinet des Dr. Caligari

Deutschland 1919/1920 Spielfilm

Das Cabinet des Dr. Caligari


E.B., Der Kinematograph, Nr. 686, 3.3.1920


Berlin hat ein neues Schlagwort mehr. "Du mußt Caligari werden." Seit Wochen schrie einem dieser geheimnisvolle kategorische Imperativ von allen Plakatsäulen entgegen, sprang aus den Spalten aller Tageszeitungen hervor. Eingeweihte fragten: "Sind Sie auch schon Caligari?" So ungefähr wie man früher fragte: "Sie sind wohl Manoli?" Und man munkelte von "Expressionismus im Film" und "verrückt". Nun ist er heraus, dieser erste expressionistische Film und abgesehen davon, daß er im Irrenhause spielt, kann man nichts Verrücktes an ihm finden. Man kann sich zur modernen Kunst stellen, wie man will, in diesem Fall hat sie entschieden eine Berechtigung. Krankhafte Ausgeburten eines irren Geistes finden in diesen verzerrten, seltsam phantastischen Bildern einen zur höchsten Potenz gesteigerten Ausdruck. Die Welt malt sich anders im Hirn eines Wahnsinnigen, und wie die Gestalten seiner Phantasie zum Teil spukhafte Formen annehmen, so zeigt auch die Umwelt, in der sie sich bewegen, ein bizarres Gesicht: schiefe Zimmer mit dreieckigen Fenstern und Türen, unwirklich krumme Häuser und bucklige Gassen. Und man kann von diesen tollen Bildern wie von der Handlung sagen: "Ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode." Das Manuskript bringt in durchaus logischer Entwicklung die Erzählung eines Irren, der durch den unter eigenartigen Umständen erfolgten Tod eines Freundes wahnsinnig geworden ist und nun Wahrheit und Phantasie zu einer seltsamen Schauergeschichte verquickt. Ein gewisser Dr. Caligari, den er mit dem Direktor der Anstalt identifiziert und der durch einen Somnambulen, mit dem er auf Jahrmärkten herumzieht, geheimnisvolle Morde ausführen läßt, spielt darin die Hauptrolle. Die Handlung ist packend, viele Szenen direkt von faszinierender, atembeklemmender Wirkung, wie z.B. eine Mordszene, bei der man nur die Schatten der ringenden Personen sieht (technisch übrigens ein hervorragend gelungenes Bild) oder das Traumerlebnis der Braut des Irren, in dem sie von dem Somnambulen überwältigt und über die Dächer hinweg auf schwindelnd schmalem Weg entführt wird. Sehr eindrucksvoll wirkt auch das Schlußbild aus dem Hof des Irrenhauses mit dem Tobsuchtsausbruch des Wahnsinnigen und seiner Unschädlichmachung durch die Zwangsjacke. Fritz Fehér spielt diesen Irren mit vorzüglicher Mimik, wie überhaupt die schauspielerischen Leistungen sämtlicher Mitspielenden ganz hervorragend sind. Werner Kraus in der phantastischen Maske des Dr. Caligari; ein Kabinettstück, das ihm so leicht keiner nachmacht. Neben ihm Conrad Veidts dämonischer Typ, als Somnambuler von einfach unheimlicher Wirkung; nervenschwache Personen können Alpdrücken davon bekommen. Die Braut des Irren verkörpert Lil Dagover in sanfter Schönheit. Vorzüglich auch in kleineren Rollen, Rudolf Lettinger und Hans Heinz v. Twardowski, der bekannte Dichter und Rezitator. Robert Wiene führt die Regie mit gewohnter Meisterschaft und vermittelte im Verein mit den Kunstmalern Warm, Reimann und Röhrig starke Eindrücke, unterstützt durch die brillante photographische Wiedergabe.

Die Decla-Filmgesellschaft hat mit diesem neuesten Werk bewiesen, daß die Filmkunst noch lange nicht mit ihrem Latein zu Ende ist, und daß noch neue, ungeahnte Möglichkeiten zu ihrer Weiterentwicklung offen stehen.

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