Nur Gespenster

„I was born in the desert“: Während Robyn Cages Stimme aus dem Off zu hören ist, umkreist Marcus Kanters Kamera einen aus mehreren Wunden blutenden, geknebelten und gefesselten Mann, dem die Augen verbunden sind. Schnitt. Eine Frau, scheinbar gerade noch als Wasserleiche in der Ostsee treibend, steigt aus den Fluten an den Strand…

Evelyn Sonntag ist vorwiegend nachts in der Telefonseelsorge tätig. Plötzlich ist ihre seit mehr als 15 Jahren vermisste und inzwischen auf Bestreben ihres Gatten Robert offiziell für tot erklärte Tochter Jessica in der Leitung. Doch diese bricht das noch gar nicht in Gang gekommene Gespräch abrupt ab: „Ich hätt‘ nicht anrufen sollen.“

Sofort brechen alte Wunden wieder auf. Bei Evelyn, die immer daran geglaubt hat, dass ihre spurlos verschwundene Tochter noch lebt. Beim Autohaus-Inhaber Robert Sonntag, der unter den ganzen familiären Stress mit der Unsicherheit einen Schlussstrich ziehen wollte. Und auch bei Jessicas jüngerem Bruder Henrik, der in Köln lebt, als Veranstaltungstechniker aber viel herumkommt und demnächst auch wieder in der Nähe zu tun hat.

Die Rostocker Kommissarinnen Katrin König und Melly Böwe werden zum im Vorspann gezeigten Tatort gerufen: Bei dem Misshandelten und offenbar Ermordeten handelt es sich um den 47-jährigen Kai Wülker, einem Facharzt für plastische Chirurgie, der viele Jahre für Nichtregierungs-Organisationen (NGO) in Krisengebieten tätig war. Nun hatte er sich in einer Rostocker Klinik beworben, war aber zwei Tage vor Ablauf der Probezeit gekündigt worden – mit erheblicher Abfindung.

Eine intakte DNA-Spur am Tatort führt die beiden LKA-Ermittlerinnen zum „Cold Case“ der vermissten Jessica Sonntag. Gespenster der Vergangenheit tauchen auf: War Kai Wülker, den die Klinikchefin ein „misogynes Arschloch“ nennt verbunden mit dem Vorwurf, gegenüber ihrer zwölfjährigen Tochter übergriffig geworden zu sein, am Verschwinden Jessica Sonntags beteiligt? Bei Ermittlungen in der Sadomaso-Szene kommt heraus, dass Wülker in einem Rostocker SM-Club Hausverbot hatte – als Pädophiler.

Michelle Carstensen, einst Jessicas beste Freundin, ringt sich in zeitraubenden Gesprächen das Geständnis ab, von Missbrauchsvorwürfen im Zusammenhang mit Jessicas Flucht gewusst zu haben. Und Henrik Sonntag sagt aus, seine Schwester sei damals gemeinsam mit dem Dealer Timo Pröhl abgehauen. Er lässt die Möglichkeit durchscheinen, dass Jessica vom eigenen Vater missbraucht worden ist.

„Sind wir ‘ne scheiß Erbmonarchie?“: Noch mehr Gespenster der Vergangenheit tauchen auf. So muss Melly Böwe damit leben, vom Kollegen Oberkommissar Volker Thiesler gemobbt zu werden aus Frust darüber, nicht Nachfolger von Sascha Bukow geworden zu sein. Stattdessen ist es seine Halbschwester (im wirklichen Leben Charly Hübners Gattin) geworden, die immer noch mit Bochumer Kennzeichen unterwegs ist. Sodass sich der Dienststellenleiter Henning Röder zur Klarstellung genötigt sieht, es sei genuin seine Entscheidung gewesen, zwei Frauen an die Spitze des Kommissariats zu berufen: „Nicht jede gute Nummer Zwei ist eine gute Nummer Eins.“

Doch damit noch nicht genug: Auch Katrin König fühlt sich heimlich unter Beobachtung stehend. Und verliert die Nerven, als mit ihrem Vater Günter Wernecke (Wolfgang Michael) eine nur scheinbar verdrängte Person aus der Vergangenheit auftaucht – nach vierzig Jahren. Als er ihr ein Familienfoto aus der Kindheit zeigt, eine Strandszene, die Katrin König geradezu alptraumhaft verfolgt, rastet sie völlig aus…

Der Titel „Nur Gespenster“ ist Programm in dieser ambitionierten, zwischenzeitlich arg durchhängenden, am Ende aber packenden „Polizeiruf 110“-Folge. In der sich Abgründe en masse innerhalb und außerhalb der Rostocker Dependance des Landeskriminalamtes auftun. Gedreht u.a. in den Ostseebädern Rerik und Graal-Müritz sowie im schleswig-holsteinischen Beidenfleth ist der zweite Fall der Rostocker Ermittlerinnen Böwe und König am 17. Dezember 2023 in der ARD erstausgestrahlt worden.

Pitt Herrmann