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Die Langzeitbeobachtung der "Kehraus"-Trilogie beginnt Anfang 1990, in der Wendezeit. Die Protagonisten Henry, Stefan und Gabi, die Gerd Kroske vor der Kamera versammelt, sind zwangsweise als Kehrer bei der Straßenreinigung in Leipzig angestellt. Es sind Menschen, die schon zu DDR-Zeiten am Leben nagten und mit furchtbaren Miseren zu kämpfen hatten. Mit häuslicher Gewalt, Missbrauch, Alkoholismus und mit hoffnungslos zersplitterten Familiengeschichten. Die drei Filme erzählen zusammen eine Geschichte wachsender Verarmung, von einem durchritualisierten Alltag und leerlaufender Geschäftigkeit zwischen Wohnung, Sozialamt und Kneipe.
Mystifiziert der zurückhaltende Blick des ersten Teils die Figuren noch als gefallene Helden, denen man beim Ärmerwerden zuschaut, nähern sich die anderen beiden Teile ihnen – jetzt in Farbe – mit Fragen und nochmaligem Nachfragen auf Augenhöhe. Auch die Ästhetik verabschiedet sich nun endgültig vom Dokumentarstil der DEFA. Die "Kehraus“-Trilogie ist trotz ungeheuer anrührender Einblicke in fremde Enttäuschungen und Wohnstuben frei von jeder Larmoyanz. Sie zeigt, wie klein und grau Arbeitslosigkeit die Menschen machen kann. Aber auch, mit welchen Anstrengungen, welcher Würde und Selbstkritik sich Kroskes Protagonisten gegen die drohende Verwahrlosung und Vereinsamung stemmen.
Quelle: Birgit Glombitza: "Deutschland, revisited II". (Katalog zur gleichnamigen Filmreihe im Kommunalen Kino Metropolis September 2007). Hamburg: Kinemathek Hamburg e.V., 2007.
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300.000 Menschen sind auf dem Karl-Marx-Platz vor dem Opernhaus zusammengekommen am 14. März 1990. „Deutschland einig Vaterland“-Rufe sind deutlich zu vernehmen, als der geradezu als Heilsbringer umjubelte „Helmut“ für die Wahl des Dreierbündnisses aus Demokratischem Aufbruch (DA), dem CSU-Ableger Deutsche Soziale Union (DSU) und den Christdemokraten (CDU) wirbt.
Als die Kundgebungs-Teilnehmer den Platz verlassen, türmt sich vor den Augen der Spätschicht des Volkseigenen Betriebs Stadtwirtschaft Leipzig, Abteilung manueller Kehrbetrieb, ein gewaltiger Berg an Prospekten, Flugblättern und anderem Wahlkampfmaterial auf. „Das prickelnde Vergnügen“: Der Bierwagen des Brauhauses Ernst August wird geschlossen, im „Festhalle“ genannten Zelt gehen Musi, Gaudi, Radi zu Holsten-Bier aus Pappbechern weiter.
Die händische Reinigungskolonne ist mit Besen und Schaufel unterwegs, ist das Gröbste in mitgeführten Tonnen verschwunden, kommen Sprühfahrzeuge zum Einsatz. Parkende Autos wie ein Polski-Fiat-Taxi, das für Epson-Drucker Reklame fährt, werden professionell umschifft. In der langen Warteschlange vor einer Disco muss eine Schlägerei unterbunden werden, die Volkspolizei läuft auch in der Nacht Streife. Wo auch um diese Uhrzeit noch Wahlplakate an Hausfassaden geklebt werden.
Henry Rande, Stefan Seide und mit Gabi Koch die einzige im Film zu sehende Frau geben dem Defa-Dokumentaristen Gerd Kroske Auskunft über ihre gebrochenen Lebensläufe, die sie zu diesem ungeliebten Job geführt haben: Bummelei, Alkoholismus, Scheidung, Wohnungslosigkeit. Gabi Koch, selbst im Heim groß geworden, ist ledig und alleinerziehende Mutter zweiter 17 und elf Jahre alter Kinder. Während die ältere Tochter studiert und weitgehend auf eigenen Beinen steht, lebt der Sohn im Heim. Nach mehreren Enttäuschungen hat sie keine großen Träume mehr.
„Wir werden nicht arbeitslos, weil die Stadt immer dreckig sein wird“: Mit ihrer körperlich fordernden Arbeit sind die Befragten nicht unzufrieden, der täglich bar ausgezahlte Lohn von 46 Mark nach einer 12-Stunden-Schicht für DDR-Verhältnisse nicht schlecht. Aber die Zeiten ändern sich nicht unbedingt zum Guten, wie alle befürchten. Beim Drehen vier Tage vor der ersten freien Wahl der Volkskammer ließ sich freilich nicht absehen, dass diese auch die letzte gewesen ist.
Die ersten negativen Auswirkungen des Umbruchs zeigen sich: „Aber jetzt in der letzten Zeit gibt es gerade Jugendliche die Leute Nachts anpöbeln, und wenn sie 10 Meter vor dir ‘ne Bierflasche oder eine Weinflasche hinschmeißen, extra aus Wut, die Mülltonnen auskippen im Tunnel, das haben wir auch schon reichlich erlebt, dass wir in der Früh noch einmal raus müssen um den Dreck zu entfernen, oder auf dem Markt wo sie die Aschenkübel und Papierkörbe auskippen. Es sind meistens Jugendliche, wir haben auch schon welche erwischt, die eingebrochen waren und die Polizei durch unsere Hilfe die noch mitgekriegt haben, es sind so kleine Randerscheinungen, aber ansonsten läuft das in der Stadt schon ganz gut.“
Am Ende der Nachtschicht, es graut bereits der Morgen und auf dem Leipziger Hauptbahnhof herrscht Hochbetrieb, gabs Bargeld, das nun in der Mitropa umgesetzt wird: „Die Straßen war’n dreckig, da kriegt ihr ‘nen Klaps. Jetzt trinken wir Tee und dazu ‘nen Schnaps.“
Der 30-minütige Kurz-Dokumentarfilm „Kehraus“ der Gruppe Kinobox des bereits in eine GmbH umgewandelten Defa-Studios für Dokumentarfilme (Katrin Schlösser und Peter Planitzer Prod.) kommt ohne Kommentar aus, der Filmemacher beschränkt sich darauf, Fragen an seine drei Protagonisten zu stellen. Nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 als Begleitfilm zum Kino-Hauptfilm am 4. November 1990 angelaufen, erfolgte die nachgeholte „Ost-Premiere“ Ende November 1990 beim 33. Dokfilmfestival Leipzig, wo „Kehraus“ mit dem Spezialpreis des Oberbürgermeisters ausgezeichnet wurde.
Zuvor fand bereits am 16. November 1990 die westdeutsche Erstaufführung im Rahmen der Duisburger Filmwoche statt. Bei einer Diskussion erklärte Gerd Kroske, dass der Anlass für seinen Film nicht der Wahlkampf-Auftritt Helmut Kohls gewesen war. Bei einem nächtlichen Streifzug durch Leipzig habe er einmal erlebt, wie Straßenkehrer von betrunkenen Passanten angepöbelt worden seien. Daraus sei dann die Idee für seinen Film entstanden, der zur Zeit der Frühjahrsmesse gedreht werden sollte. Dass diese in den Wahlkampf fiel, habe damals niemand ahnen können.
Pitt Herrmann