Tränen aus Glyzerin

Patrick Vonderau, Film und Fernsehen, Nr. 5, 1991

Über der deutschen Kulturlandschaft liegt so etwas wie ein dicker Nebel, der sich hier und dort so dicht zusammengezogen hat, daß man keine fünfzig Schritt weit in die Zukunft sehen kann.

Während an einigen blassen Stellen die Sonne mit einer auffallenden Heftigkeit strahlt, versinken andernorts Einrichtungen von großer kultureller Bedeutung im grauen Dunst der Ungewißheit. Über den neuen Bundesländern hängt der Nebel besonders tief, verschleiert die Sicht nach vorn und macht allerhand unklare Geschäfte möglich. Über den Babelsberger Filmstudios der DEFA liegt er wie ein Leichentuch.

Dem Besucher, der sich der DEFA erstmalig auf dem offiziellen Wege einer öffentlichen Führung nähert, erschließt sich die Zukunft des Filmgeländes nur schemenhaft. Über die Vergangenheit wird ausführlich informiert; Fakten und Zahlen verweisen auf eine beeindruckende Tradition. Hier wurde Filmgeschichte gemacht.

In Zukunft aber? Keine Zahlen. Nur der vage Hinweis, daß demnächst über alles entschieden werde. Wer wird hier Filmgeschichte machen? Ein Investor von außerhalb?

Die Geschichte der DEFA wird die DEFA nicht retten.

Schließlich soll auf dem 1911 entdeckten, 43 Hektar großen Gelände kein Museum gebaut werden, auch kein Vergnügungspark für Filmamateure. Es geht vielmehr darum, eine europäische Produktionsstätte zu erhalten, die durch den kreativen Austausch einer umfangreichen, professionellen Belegschaft die Gestaltung und die Vermarktung von Filmideen ermöglicht; in genau dieser Reihenfolge.

Vermarktung von Filmideen unter Zuhilfenahme gestalterischer Mittel hat es in Deutschland – wie überall – zur Genüge gegeben; was vielleicht ein Grund dafür sein mag, warum es in den hiesigen größeren Kinosälen so etwas wie eine eigene Identität auf der Leinwand gegenwärtig kaum gibt.

"Bewahrung" ist ein schwieriger Begriff geworden in der Zeit der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erneuerung; für die geschäftliche Zukunft der DEFA-Filmstudios ist die Bewahrung tradierter Arbeitsformen nicht relevant. Da wird manches Arbeitsverhältnis, manche Erinnerung wegrationalisiert werden. Ein wirkliches Fortbestehen der Babelsberger Produktionsstätte wird eine Desillusionierung derer bewirken, denen der Erhalt eines kulturellen Erbes am Herzen lag. Es ist die Veränderung selbst, die ängstlich und mutlos macht, die das Vergangene einzigartig und die Zukunft aussichtslos erscheinen lassen will.

Wenn man sich einer Führung über das im Dornröschenschlaf befindliche Filmgelände anschließt, dann wird man bald feststellen, daß man durch die Vergangenheit, nicht durch die Gegenwart geführt wird.

Die großen Studiobauten stammen noch aus den zwanziger Jahren, und nur der Gebäudekomplex der "Stummen Hallen" wurden verändert: gegen den Verfall schützt ein Mantel aus Wellblech.
Die ganze Anlage des Geländes läßt eher an eine Fabrik, denn an die "Deutsche Film-Aktiengesellschaft" denken, oder besser: an die Kulisse einer Fabrik.

Daß hier allein zu DEFA-Zeiten 650 Kino- und 850 Fernsehfilme gedreht wurden, daß das Studio über einen Fundus mit 50 000 Möbeln und 600 000 Klein-Requisiten sowie 50 000 Uniformen und 150 000 Kostümen verfügt, daß es 12 Aufnahmestudios, 2 Trick-, 3 Synchron-, 2 Misch-Ateliers (darunter das größte Europas für 7Qmm-Projektion) und 1 Musikaltelier – Ateliers mit insgesamt etwa 10000 m2 Fläche, aufweist – das alles sind Hinweise auf einen Betrieb der Superlative. Die nehmen sich jedoch etwas kläglich, aus, wenn man einen der nüchternen weißen Zettel liest, die am Ausgang mancher Produktionsbauten trocken darauf hinweisen, daß bei Beendigung des Dienstverhältnisses Betriebsausweise und Schlüssel abzugeben sind. Zum Zeitpunkt unseres Besuches wirkt das Studio wie ausgestorben, keine DEFA-eigene Produktion findet statt. Die Dreharbeiten zu Frank Beyers "Der Verdacht" sind abgeschlossen; Heiner Carow dreht außerhalb des Geländes an der "Verfehlung" nach der Erzählung von Werner Heiduczek.

In der "Zentralen Maskenbildnerabteilung" sind von siebzig Festangestellten noch drei tätig. Man bereitet sich, wie im Requisitenfundus, auf den Verleih, teilweise auch Verkauf von Inventargegenständen an auswärtige Interessenten aus dem Theater- und Filmbereich vor.

In den Stukkateur Werkstätten, die es auf dem Gelände seit UFA-Zeiten gibt, werden jetzt Restaurationsarbeiten für das Operncafe Unter den Linden durchgeführt. Wer nicht entlassen ist, arbeitet auf Kurzzeit, sofern Arbeit da ist.

Der Blick in die Werkstätten der DEFA sollte als Lehrstück für harte Filmgeschäftemacher dienen; denn nicht nur die DEFA muß sich verändern. Wenn es so etwas wie einen eigenständigen, kommerziell nutzbaren und dabei künstlerischen Film in der Bundesrepublik geben soll, dann kann ein Besuch in Babelsberg nur empfohlen werden. Die liebevolle Hingabe an den Beruf, eine gewisse Bescheidenheit und die Einordnung in eine soziale Gemeinschaft schöpferisch Tätiger, die sich hier finden lassen, werden den meisten finanziell erfolgreichen Großproduzenten fremd sein. Und nicht nur denen.

Volker Schlöndorff preist in dem Werbetrailer der DEFA, an dessen Herstellung er mitgewirkt hat, den Studiobetrieb als einen Apparat, in den man auf der einen Seite eine Filmidee hineingibt und auf der anderen den fertigen Film herausbekommt. Abgesehen davon, daß im Studio tatsächlich alles zur Filmherstellung Notwendige vorhanden war – vom Drehbuchautor bis zum Kopierwerk –, ist die DEFA nichts weniger als ein Apparat. Das eben war das Fossile, das Unrentable an diesem Betrieb – daß er am Menschen selbst Interesse zeigte.

Es bleibt die Frage, ob sich ein solches Unternehmen wirklich umstrukturieren läßt und ob die sicher auch außereuropäischen Adressaten des Trailers, den Schlöndorff praktischerweise auf amerikanisch kommentiert, an der Finanzierung eines arbeitstechnisch überholten Betriebes mitwirken werden.
Der Unterschied zwischen Hollywood und Babelsberg, so lernen wir bei einer Führung, besteht darin, daß in Hollywood alles, was nicht mehr von Nutzen ist, weggeworfen wird, während man bei der DEFA alles konserviert.

Die Bedeutung der Babelsberger Filmstadt ist auch deshalb so schwer einzuschätzen, weil die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Wunschbild ständig verschwimmen. Schließlich haben wir es mit Film zu tun.
Darauf stößt uns spätestens Schlöndorff, der, wie wir erstaunt bemerken, bei seiner kommentierenden Studiorundfahrt dauernd im Kreis fährt. Oder die Tatsache, daß in der Nacht vor unserem ersten Besuch echte Diebe einen falschen Tresor aufzubrechen versuchten, der zu den Beständen des Fundus gehörte.
Illusionen mag sich auch der eine oder andere Angehörige einer Seniorengruppe machen, die neben anderen über das Terrain geführt wird. Zwischen Andacht und Ehrfurcht angesichts der respektablen, aber melancholischen Schönheit eines Fischerdorfes aus Styropor fällt die Bemerkung, da komme "der Westen aber nicht mit".

Die Dame von der DEFA, die für das freundliche und sachkundige Geleit der Gruppe verantwortlich ist, erzählt mit ehrlicher Begeisterung hier und da eine Episode aus dem Produktionsalltag. Zum Beispiel die von dem Kinderdarsteller, einem kleinen Jungen, der trotz Munterkeit und frohen Mutes eine traurige Szene zu spielen hatte. Da er partout nicht weinen konnte, tropfte man ihm etwas Glyzerin ins Auge, und die Szene war im Kasten.

"Wenn ein Kind einmal nicht ganz echt weint, dann verzeihen Sie es ihm", lautete die abschließende Aufforderung.

Die älteren Damen und Herren waren gerührt; mich packte eine dumpfe Ahnung: daß man dort, wo die Entscheidungen fallen, nur Glyzerintränen weint.

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