Westfront 1918

Deutschland 1930 Spielfilm

Westfront 1918



Siegfried Kracauer, Frankfurter Zeitung, Nr.389-391, 27.5.1930


Ein Tonfilm vom Krieg, nach Johannsens: "Vier von der Infanterie" gedreht. Ich kann mich nicht erinnern, daß der Krieg, und zwar der Stellungskrieg in seiner letzten, schrecklichsten Phase, im Film je so realistisch dargestellt worden wäre. Sollte auf der Leinwand nachgeholt werden, was in der Literatur bereits geschehen ist ?

Zwar, der Blickpunkt, von dem aus die Ereignisse aufgenommen sind, ist nicht durchaus einwandfrei. Oder vielmehr, es ist überhaupt kein einheitlicher Blickpunkt vorhanden. Manchmal scheint es, als solle wirklich die Monotonie der Hölle, die stete Nachbarschaft des Todes gebannt werden. Dann wieder drängt sich Genrehaftes dazwischen, das sich vorlaut benimmt. Die Affäre des Studenten mit der Französin hat einen zu starken Akzent, und die Ehekalamität des Urlaubers, der einen Schlächtergesellen im Schlafzimmer seiner Frau antrifft, hätte nicht bis zum Rande ausgeschlachtet werden dürfen. Auch ein paar Figuren sind überbelichtet; die persönliche Ekstatik des Leutnants durchbricht das Einerlei der Westfront, und Fritz Kampers ist mit einer dicken Privatatmosphäre umgeben. Umgekehrt fehlen typische Züge des Kampfjahres 1918. Werden auch einmal abgehärmte Frauen gezeigt, die vor dem Fleischerladen anstehen, so bleibt doch insgesamt die Front in der Heimat unsichtbar. Ebensowenig tritt die Materialnot in den Schützengräben deutlich hervor. Das Auftauchen der Tanks, die ein Zeichen des Endes waren, wirkt nicht unheilverkündend genug.

Dennoch ist unter der Regie von G. W. Pabst ein Stück Kriegswirklichkeit erstanden, wie es bisher noch niemand zu rekonstruieren gewagt hat. Ich möchte nicht allen Motiven nachspüren, aus denen das Entsetzen neu heraufbeschworen worden ist, sondern einfach feststellen, daß es auf lange Strecken hin echt anmutet. Ein Eindruck, der wohl auch daher rührt, daß die Stacheldrahtlandschaft den Bild- und Lebensraum beherrscht, statt wie in früheren Kriegsfilmen nur eine eingestreute Episode zu sein. Ihr ordnet sich das ganze menschliche Dasein unter, und aus ihr stammt noch die vertrackte Lustigkeit des Frontkabaretts, dessen Arrangement von besonderer Überzeugungskraft ist. Dem Drang zur wahrheitsgetreuen Wiedergabe des Grauens, der hier obwaltet, entwachsen zwei Szenen, die schon beinahe die Grenze des Aussagbaren überschreiten. Die eine: ein Einzelkampf endet damit, daß ein Infanterist vor aller Augen im Sumpf erstickt wird. (Daß man später noch eine Totenhand aus dem brodelnden Schlamm herausragen sieht, ist überflüssige Effekthascherei.) Die andere: das Frontlazarett in der Kirche mit Verstümmelten, Schwestern und Ärzten, die vor Erschöpfung kaum noch ihr Handwerk weiter betreiben können. Es ist, als seien mittelalterliche Marterbilder lebendig geworden.



Das Elend wird durch die Vertonung, für die Guido Bagier und Joseph Masolle verantwortlich zeichnen, in eine so grausame Nähe gerückt, daß der Abstand, den sonst künstlerische Werke zwischen dem Publikum und dem ungeformten Geschehen setzen, stellenweise aufgehoben ist. So schlecht meistens die menschliche Rede herauskommt, die Reproduktion des Geschützspektakels ist gelungen. Geglückt sind auch mehrere Versuche der Tonmontage: etwa die mit Hilfe lautlicher Entwicklung bewerkstelligten Übergänge zwischen zwei Bildeinheiten. Vor allem aber wird der Ton mit Erfolg als Mittel der Versinnlichung ausgenutzt. Wenn man einen Verwundeten, der nicht gerettet werden kann, stöhnen hört, ohne ihn je zu sehen, so geht das unter die Haut, und der Betrachter bleibt nicht länger mehr Betrachter. Und nicht minder sprengen die Seufzer und Schreie aus dem Lazarett den Bildrahmen und dringen unmittelbar in die Wirklichkeit.

Zweifellos geht der Film in ästhetischer Hinsicht ein bedenkliches Risiko ein. Er zerstört an den genannten Orten die Schranken, die dem Abbild gezogen sind, und erzeugt wie irgendeine Panoptikumsfigur den widernatürlichen Schein der außerkünstlerischen Natur. Die Frage ist, ob er zu Recht ins Dreidimensionale überspringt. Ich neige dazu, sie in diesem einen Falle zu bejahen, in dem es gilt, die Erinnerung an den Krieg um jeden Preis festzuhalten. Schon ist eine Generation ins Alter der Reife gerückt, die jene Jahre nicht mehr aus eigener Erfahrung kennt. Sie muß sehen, immer wieder sehen, was sie nicht selber gesehen hat. Daß ihr das Angeschaute zur Abschreckung dient, ist unwahrscheinlich, aber wissen soll sie, wie es gewesen ist. Es kommt hier aufs Wissen an, nicht auf den mit ihm verbundenen Zweck.

Während der Vorstellung – der Film läuft im Capitol – verließen viele Zuschauer fluchtartig das Lokal. "Das ist ja nicht zum Aushalten", ertönte es hinter mir; und: "Wie darf man uns so etwas bieten!" Möchten sie auch im schlimmen Ernstfalle erklären, daß es nicht zum Aushalten sei und daß sie sich so etwas nicht länger bieten lassen. Doch wie sie den Anblick des Krieges scheuen, so fliehen sie in der Regel auch die Erkenntnis, deren Verwirklichung ihn verhindern könnte.

Siegfried Kracauer: Werke. Band 6. Kleine Schriften zum Film. Herausgegeben von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. 3 Teilbände. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Alle Rechte vorbehalten. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

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