Die Kinder sind tot

Deutschland 2002/2003 Dokumentarfilm

Die Kinder sind tot


Ralf Schenk, film-dienst, Nr. 5, 04.03.2004

Der Film beginnt mit dem Blick auf eine verschlossene Tür, vor der ein nervöser Polizist wartet. Kurze Zeit später wird sich die Tür öffnen, ein Blitzlichtgewitter setzt ein. Die junge Frau, auf die die Fotografen lauerten, verbirgt ihr Gesicht. Daniela J. (23), die sich so vor der Öffentlichkeit versteckt, hat im Sommer 1999 ihre beiden Söhne Kevin (3) und Tobias (2) 14 Tage lang allein in der Wohnung zurückgelassen; in dieser Zeit sind die Kinder qualvoll verdurstet. Nun verkündet das Gericht eine lebenslängliche Haftstrafe, und Zuhörerinnen aus dem Publikum, die sich fast darum schlugen, einen Platz im Verhandlungssaal zu ergattern, kommentierten das Urteil knapp und kalt mit Worten wie: "Keine Gnade."

Aelrun Goette, deren Porträt "Ohne Bewährung – Psychogramm einer Mörderin" (1998) noch in guter Erinnerung ist, hatte verschiedene Möglichkeiten, sich dem "Fall" der toten Kinder und ihrer Mutter zu nähern. Denkbar wäre ein kritisches Essay über jene Medien gewesen, die sich – wie jüngst beim so genannten Menschenfresser – aus vorwiegend spekulativen Gründen auf Daniela J. stürzten und ihre "Tat" ausschlachteten. Auch eine andere, komplexere Sicht auf die Dinge hätte spannend sein können, nämlich anhand des Falles über den Wandel eines einstigen Vorzeige-Stadtteils in Frankfurt/Oder zu einem slumähnlichen Wohnkomplex zu reflektieren. Die mehrfach eingeblendeten Totalen der Plattenbausiedlung Neu-Beresinchen suggerieren auf etwas simple Weise, dass DDR-Satellitenstädte a priori ein Hort des Bösen sind. Doch ihre "Verwandlung" kam ja nicht von ungefähr: Sie ging einher mit rasanter De-Industrialisierung und hoher Arbeitslosigkeit sowie dem psychischen und physischen Verfall Tausender Bewohner, die während ihrer DDR-Sozialisierung niemals auf solche Umstände vorbereitet worden waren. Entsprechende Zusammenhänge werden im Film nicht verbalisiert. Auf die Frage, was "Die Kinder sind tot" mit der verschwundenen DDR zu tun habe, antwortet die Regisseurin im Presseheft, sie konstatiere "eine schmerzhafte Wahrheit vom Sterben der Liebe im Osten. Mein Aufwachsen in der DDR, mit dem ich auch zu Teilen hadere, hatte sehr viel mit Gemeinschaft zu tun. Auch mit aufgezwungener, aber trotzdem mit gelebter Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft gibt es nicht mehr, sie ist kaputt. Es tut mir weh, das zu sehen".

Ausgehend vom "Fall" Daniela J. ein übergreifendes Bild von der existenziellen Dimension solcher gesellschaftlichen Umbrüche und Verluste zu formen, hätte eines großen Atems und differenzierter Beobachtungen und Rückschlüsse bedurft, sicher auch eines ausführlichen Autorenkommentars. Es wäre ein anderer Film geworden als der vorliegende. Aelrun Goette siedelt ihre Gesellschaftskritik nicht als panoramaartigen Diskurs an, sondern auf Augenhöhe mit den unmittelbar Beteiligten und Betroffenen. Beispielhaft dafür ist jene Kneipenszene, in der sich die Regisseurin Monate nach dem Geschehen noch einmal nach Daniela J. erkundigt, aber vorwiegend abweisende Antworten erhält. Keiner will mehr darüber reden; am liebsten soll der Mantel des Schweigens ausgebreitet werden. Viele hier kannten die junge Mutter und ihre Kinder; viele mögen auch gesehen haben, wie überfordert sie mit den alltäglichen Verrichtungen war; aber keiner kümmerte sich konkret. Obwohl jeder zweite das Jugendamt benachrichtigt haben will, hat es am Ende vermutlich niemand getan. In den Reaktionen schwingt ein dumpfes Gefühl von Mitschuld mit, die niemand zugibt. Erst recht nicht Danielas Vater und ihr Freund, bei dem die junge Frau lebte, während ihre Kinder starben. Beide Männer haben jede Auskunft vor der Kamera verweigert. Nachdem in der ersten Hälfte ein Leichenbestatter, ein Gerichtsmediziner und ein Polizeibeamter, die Pflichtverteidigerin und diverse andere Frankfurter zu Wort kommen, konzentriert sich die zweite Hälfte fast ganz auf das Verhältnis zwischen Daniela und ihrer Mutter und findet zu einer Art intimem Protokoll. Beider Erinnerungen, getrennt voneinander aufgenommen, werden dramaturgisch verflochten: ein "Dialog", in dem unterschwellig oder auch ganz direkt über Ängste und Enttäuschungen, gegenseitige Verletzungen, das Unvermögen, miteinander zu kommunizieren, aber auch über die Sehnsucht nach Liebe nachgedacht wird. In der Realität hätte dieses sehr offene, allein durch die Filmmontage erschaffene "Gespräch" wohl nie stattfinden können – auch deshalb sind die Kinder gestorben. Die Interviews laufen auf die schockierenden Bilder jenes Tages zu, an dem Daniela ihre toten Söhne fand. "Mein Kopf war leer", sagt sie, bevor ihr der Atem stockt. Immer wieder lassen die Gesprächsszenen ahnen, welche Kraft es die beiden Frauen gekostet haben mag, das Geschehene noch einmal in Worte zu fassen. Nicht zuletzt das Ungesagte trägt zur Sprödigkeit, Sperrigkeit, ja auch zur Hilflosigkeit des Films bei.

Die letzte Szene zeigt ein leeres Treppenhaus, eine verschlossene Wohnungstür und die Tür der darunter liegenden Wohnung, vor der Schuhe abgestellt sind. Ein Motiv, das noch einmal die Frage verdichtet, was die Mitbewohner in den 14 entscheidenden Tagen taten, in denen sich die Kinder allein überlassen waren. Hörten sie keine Schreie, kein Trampeln? Wollten sie nichts hören? Das letzte Bild meint nicht nur die unmittelbaren Nachbarn der Daniela J., es meint im übertragenen Sinne auch jeden einzelnen Zuschauer – und eine Gesellschaft, in der das Wegsehen und -hören fast schon "normal" geworden ist.

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