Wozzeck

Deutschland (Ost) 1947 Spielfilm

Der Platz ist verflucht


Fred Gehler, Film und Fernsehen, Berlin/DDR, Nr. 12, 1982


"Wozzeck" ist ein Film der Reminiszenzen. Spuren führen zurück in eine andere Nachkriegssituation: 1919 erhalten die drei jungen, der Berliner expressionistischen Künstlergruppe "Sturm" zugehörigen Maler Hermann Warm, Walter Röhrig und Walter Reimann den Auftrag, "Das Kabinett des Dr. Caligari" auszustatten. Hermann Warm: "Der eigenartige, sonderbare Stil, in dem dieses Buch … geschrieben war, war für mich gleich beim ersten Lesen so erregend und so faszinierend und berührte mich so eigenartig und sonderbar, daß ich sagte, für dieses nun ganz ausgefallene und anders geartete Thema müßte auch ein ganz anderer und ausgefallener Stil gefunden werden … Reimann schlug vor, noch einen Schritt weiterzugehen und diesen Film expressionistisch zu gestalten." Der "Caligari" wird konzipiert und realisiert im Geiste der Malerei. Warm prägt die Formel: "Das Filmbild muß Grafik werden." (…)

Ein Vierteljahrhundert später entwirft Hermann Warm zusammen mit Bruno Monden die Dekors für "Wozzeck", für die Tragödie eines Mannes, der "seine Gesichte" nicht fassen kann, von Visionen gehetzt und gejagt wird. Programmatisch bekennt sich Regisseur Georg C. Klaren zu einer "Welt der Symbole": "Diese Welt neben der anderen sichtbar zu machen, wird auch die Aufgabe des Wozzeckfilms sein." (…)

Klaren sieht in Georg Büchners "Woyzeck"-Fragment vor allem die große antimilitaristische Parabel. Er läßt den Film nicht mit der berühmten Barbierszene beginnen. Nach der Eröffnung der Rahmenhandlung werden wir zunächst damit konfrontiert, wie und wo die "Wozzecks gezüchtet werden." Ein Kasernenhof. Exerzieren im Schlamm. Die Wozzecks als Opfer des Schleifens. Die gedemütigte und gequälte Kreatur. Das Rückgrat ist schon gebrochen. Die antimilitaristischen Intentionen Klarens werden notwendigerweise von der zeitgenössischen Kritik am stärksten angenommen. (…)


Den "verborgenen Sinn" bildhaft zu machen, das ist für den Film "Wozzeck" immer wieder die Konfrontation mit Büchners quälender Frage: "Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?". Nichts anderes als die Frage nach den bestimmenden und verursachenden Faktoren des menschlichen Schicksals. Freiheit oder Vorherbestimmtheit? Möglichkeit oder Sinnhaftigkeit individuellen Handelns? In einem Brief an seine Braut hatte Büchner formuliert: "Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, allen und keinem verliehen!" Oder: "Das Muß ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden." (…)

Zum "Sonderfall" des Filmes "Wozzeck" gehört auch die Imagination des Dichters selbst. Büchner steht in der Anatomie an der Leiche des hingerichteten Wozzeck ("Ein guter Kadaver, ein frischer Kadaver…"), schreit der Gedankenlosigkeit der Medizinstudenten sein Mitleiden entgegen: "Man muß kein Dichter sein, um das Elend der Kreatur zu empfinden". Er beschwört den gräßlichen Fatalismus der Geschichte und nennt Wozzecks Mörder beim Namen. Der Dichter begleitet vorher die Tragödie als allgegenwärtiger Zeuge: "Ich bin ihm oft begegnet". Er spricht mit Wozzeck ein paar Worte vor dem Wirtshaus: "Was sitzt Du da vor der Tür?" – "Sitz gut hier…" – "Gut sitz ich, und in der Grube liegt"s sich"s besser." Büchner sieht Wozzeck auch auf dem Karren zur Richtstätte fahren.

Man braucht kein promovierter Germanist zu sein, um die historischen Unstimmigkeiten an den Fingern aufzuzählen. Und doch: Der erzählerische Einfall des Films hat die ihm immanente Wahrheit, er ist stimmig in einem höheren Sinne.

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