Berlin Alexanderplatz (14 Teile)

BR Deutschland 1979/1980 TV-Spielfilm

Der gute Mensch von Berlin

Fassbinder und die Folgen



Michael Dittmar und Horst Wegener, TIP Magazin, Nr. 9, 1980


Kraftakt, Mammutunternehmen, Millionending: Vor knapp einem Jahr startete Rekordfilmer Rainer Werner Fassbinder zu einem filmischen Langstreckenlauf ohnegleichen. ,,Berlin Alexanderplatz", Döblins grelle Großstadtsuada mit seinem Helden, dem guten Menschen Franz Biberkopf, geriet zur aufwendigsten Produktion bundesdeutscher TV-Geschichte. Mit einem geschätzten Etat von 13 Millionen Mark stemmte Faßbinder das Stück Weltliteratur auf 14 seriengerechte Folgen, deren erste am 29. Oktober über die Bildschirme flimmern soll. Beim Endspurt der Dreharbeiten waren Michael Dittmar und Horst Wegener dabei.

"Jetzt machen wir aber mal ,"ne seriöse Probe." Rainer Werner Fassbinder klatscht in die Hände. In der Berliner Straße der Bavaria-Studios herrscht hektisches Treiben.

Es geht um die letzten Aufnahmen zu "Berlin Alexanderplatz". Dabei ist niemand etwa in Terminnöten, sondern man könnte sich ruhig noch ein paar Wochen Zeit lassen. Doch von Deutschlands Fließbandfilmcr ist die Branche gewohnt, daß er früher fertig wird als geplant. Auf die Gesäßtasche seiner ausgebeulten Jeans hat ihm jemand "Berlin Alexanderplatz die 100." eingestickt. Eine ironische Floskel, wie sich bald zeigen wird; denn mehr als 3 Wiederholungen einer Sequenz dreht Kameramann Xaver Schwarzenberger heute nicht.

Die Straße ist übersät mit brennenden Kerzen und Fackeln, überall sind Gräber aufgebaut, stehen Särge herum, flattern schwarze Tücher im Wind. Der Wettergott spielt mit und liefert einen düsteren, regenverhangenen Himmel, genau richtig für die Traumszenen, die auf dem heutigen Drehplan stehen.

Fast ein Jahr dreht man jetzt schon in Berlin und München, um die 14 Folgen fürs Montagsprogramm der ARD zu produzieren. 13 Millionen sind dafür veranschlagt worden. Die Zeit der Low-Budget-Projekte ist für Faßbinder vorbei. Im Ausland ist er populär wie nie zuvor. Die "Maria Braun" feiert in den USA sensationelle Erfolge. "Seine Sturm- und Drangperiode scheint er hinter sich zu haben"", so Luggi Waldleitner: Altproduzent. Er engagierte ihn für die "Lilli Marleen". Der mit 7 Millionen DM bisher teuerste deutsche Kinofilm - ab Sommer wird produziert - könnte durchaus demnächst Oscar-Kandidat werden. Zusammen mit Hanna Schygulla, der Lilli Marleen. In "Berlin Alexanderplatz" spielt sie als "Eva" eine der tragenden Rollen.

Die Umbaupause ist inzwischen beendet. Rainer Werner Fassbinder sitzt auf einem Sarg und liest einen Zettel. Er demonstriert Irm Hermann – Trude – und Günter Lamprecht, wie er sich die Szene vorstellt: Trude übergibt Franz den Zettel mit der Todesnachricht seiner Geliebten Mieze. Im Hintergrund spießt der Jude Eliser mit einem Stock Papierfetzen auf. Die Sequenz fasziniert ihn so sehr, daß er gar nicht merkt, wie sein langer Mantel plötzlich Feuer fängt; denn die Kerzen, die überall auf der Straße stehen, brennen noch. Zwei Leute vom Team ersticken die Flammen mit einem feuchten Lappen. Nichts ist passiert, nur die Einstellung muß wiederholt werden. Wenn immer wieder dieselben Leute zusammenarbeiten, zahlt sich das natürlich aus. Der Regisseur muß nicht umständlich erklären. Die 100 verschiedenen Rollenbesetzungen sind deshalb fast alle alte Bekannte für Fassbinder. 9 verschiedene Sets in den Hallen der Bavaria-Studios standen zur Verfügung. Ein Studio wurde speziell für Aufpro-Technik benutzt, um die Trauerszenen für die 14. Folge drehen zu können. Außenaufnahmen machte man an Originalschauplätzen in Berlin und in der Straßenkulisse der Bavaria-Ateliers. Hier entstanden schon Fassbinders "Despair", Schlöndorffs ,,Blechtrommel", Bergmanns "Schlangenei" und andere Großproduktionen. Ende November 1979 gab es die erste interne Vorführung des bis dahin gedrehten Materials. Die erste Pressevorführung findet Mitte dieses Jahres statt, und "2001" bringt ein Buch zum Mammutprojekt heraus. Doch bis dahin ist noch viel zu tun.

Es geht auf den Abend zu, und Rainer Werner Fassbinder richtet in der Berliner Straße die letzte Einstellung ein. Langsam versammeln sich die Hauptdarsteller, alle tragen sie Heilsarmee-Uniformen und gruppieren sich auf einer kleinen Empore. Harry Bär, Regieassistent und Mitarbeiter seit den 60er Jahren, probt mit ihnen den Chortext. Jetzt ist auch Hanna Schygulla dabei und singt fleißig mit. Fassbinder dirigiert: "Aufs Neue geht’s hinaus ins Feld / gelenkt durch Gottes Kraft...." Gelenkt durch Fassbinders Kraft, ist auch diese Szene bald im Kasten. Für die meisten ist damit Drehschluß. Es ist spät.

Fassbinder zieht sich zurück in Halle 1. Er will noch mit den Engeln drehen. "Nur noch 2-3 Stunden."

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