Die Russen kommen

DDR 1968/1987 Spielfilm

Kino und Geschichte. "Die Russen kommen"


Henryk Goldberg, Filmspiegel, Berlin/DDR, Nr. 1, 1988


Ich bin sehr für Kino. Ich bin auch für Heiner Carow (im Prinzip), aber was mich bewegt an diesem Film, ist Kino nur zum kleineren Teil, der größere heißt Geschichte, unsere. Denn daß es diesen Film jetzt gibt im Kino, ist ein Vorgang, der erfreulich ist, weil er Entwicklung markiert, die in diesem Lande sich vollzog, seitdem die letzte Klappe fiel. Das war vor zwanzig Jahren. Wieso geht jetzt, unaufgeregt, unspektakulär, was damals Streit stiftete und eine Entscheidung, die zwei Jahrzehnte Geltung hatte? Mit einem Zirkel, der die Zeit in seine Spanne nimmt, um das Entstehungsjahr, 1968, des Filmes von Heiner Carow und Claus Küchenmeister geschlagen, werden Stationen markiert im Leben unseres Landes: Drei Jahre zurück gab es ein 11. Plenum, drei Jahre nach vorn einen VIII. Parteitag, der Bleibendes nicht nur verkündete, es auch bewirkte. Es war die Zeit der "Zeitgenossen" auf der Bühne, im Kino gab es "Netzwerk", "Im Spannungsfeld". Kunst befragte Menschen nach ihren Erfahrungen im Sozialismus, und der Staat, in dem er wuchs, war knapp 20 Jahre. Die Zeit, die uns heute trennt von diesem Film, noch einmal zurückgerechnet von dem Zeitpunkt, da er entstand – da war DDR eine vollkommen sinnlose Kombination von Buchstaben, weil es da das Land noch gar nicht gab. Als dieser Film entstand, da war die Staatsgrenze in Berlin erst sieben Jahre alt und das Land noch auf dem Wege, sein eigenes Selbstbewußtsein zu entwickeln. Wo wäre, als wir uns im Netzwerk der Kybernetik mit Lust verfingen, der Platz gewesen für einen Film, der in das psychische Befinden eines Hitlerjungen leuchtet, eines Jungen, dem kein Kommunist, kein Kämpfer auf dem Weg ins Leben hilft, der sühnt, indem er sich zerstört, der nirgendwo ankommt, nur untergeht im Wahnsinn? Es gab dieses Thema, das gab es immer in unserem Land, es hieß im Kino, in seiner vollendeten Gestalt, "Ich war neunzehn", Konrad Wolfs Selbstreflexion. Ein junger Deutscher in der Uniform der Roten Armee, als "Die Russen" kamen. Aber "Die Russen kommen"? Ein deutscher Junge im braunen Hemd, fanatisch, einen "Russen" jagend, unfähig zur Wandlung, fähig nur zur Reue? Leicht ist sagen, daß es beide Wege gab, daß beide Filme keine Kontrahenten sind, sondern gleichsam Brüder: Heute, zwanzig Jahre später.


Heiner Carow und Claus Küchenmeister, so sie diese Zeilen lesen, werden vielleicht nicht sehr erbaut sein von dem Text, und ich verstehe das: Es ist ein Stück von ihrem Leben. Solche Konsequenzen können tragisch sein – Carow hat den Widerspruch produktiv, arbeitend also bewältigt, aber sie sind Reflex historischer Entwicklung.

Und der Film selbst, der hier ein wenig zu kurz kommt? Ich sehe ihn mit viel Respekt; denkt man sich, was es an Kunst gab zur geplanten Uraufführung, dann vervielfacht sich die Achtung: Das ist eine künstlerische Formung, die ihrer Zeit voraus war, bei Träumen dachte man damals wohl an Freud – und Leid des Formalismus, heute fragen wir nur nach dem Stoff, aus dem die Träume sind. Viel Symbolik im Bild (Jürgen Brauer), im Umfeld der Figuren, das Spiel selbst dann fast im understatement, fast dokumentar gestaltete Authentizität.

Ich bin für diesen Film und ich bin dafür, daß er jetzt läuft. Und ich bin auch dafür, daß wir nicht die Nase rümpfen, weil wir zwanzig Jahre später weiter sind.

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