Fitzcarraldo

BR Deutschland 1981/1982 Spielfilm

"Wissen Sie: ich habe einen Traum"

Werner Herzogs "Fitzcarraldo"


Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau, 26.03.1982

Man tut gut daran, keinen zweiten "Aguirre" zu erwarten; so erspart man sich eine Enttäuschung. Wäre denn aber die Reprise des fiebrigen Konquistadoren-Poems nicht erst recht eine gewesen?

Zweifellos: "Fitzcarraldo" ist die Rückkehr in den Dschungel, den Amazonas-Urwald, ins Aguirre-Terrain; aber nicht in den kreisenden Wahnsinn eines mörderischen Tollwütigen, sondern "Fitzcarraldo" ist die Hinwendung zum phantastischen Enthusiasmus eines tollkühnen Träumers.

"Wissen Sie", sagte Fitzcarraldo, der bereits mit seinem Traum, den Pazifik mit dem Atlantik durch eine Anden- und Dschungel-Eisenbahn zu verbinden, Schiffbruch erlitten hat, zu dem Operndirektor in Manaus am mittleren Amazonas, "wissen Sie: Ich habe einen Traum: die Oper im Dschungel." Nun, nicht gerade unter Lianen und anderem geilen Gewächs; aber in Iquitos am oberen Amazonas, einem verschlafenen Nest, wo er jetzt eine nur lausig florierende Eisfabrik im Handbetrieb hat.

Die Oper: Das ist der Dschungel in der Zivilisation, ihre verschlungenen Gefühlsintensitäten sprengen die Ratio des Geschäftsalltages. Die Oper ist Traum, Transzendenz, Halluzination, äußerstes Pathos. Zumindest für Fitzcarraldo, der sich mit seinem Grammophon und Caruso-Platten ins Glück, ins erfüllte Leben, ins Paradies auf Erden versetzt.

Mehr als 1500 Kilometer ist er von Iquitos nach Manaus den Amazonas hinabgefahren (zuletzt gerudert, weil der Motor ausgefallen war) – nur, um einmal Caruso zu sehen, der in der Stadt des Kautschuk-Booms auftritt. Natürlich kommt der Enthusiast zu spät, er hat keine Karte, und er sieht doch, zusammen mit seiner Bordell-Freundin Molly, nur noch den Schluß des Verdischen "Ernani". Aber wenn der sterbende Caruso-Ernani höchst theatralisch seine Arme dem Publikum entgegenstreckt, so ist es Fitzcarraldo, der sie greift: mea res agitur, ich bin"s, den er meint. Nun weiß er wirklich, was er will und wovon zu träumen er nun nicht mehr aufhören wird: den Leuten in Iquitos ein Opernhaus zu schenken. Er will sein Glück teilen, mitteilen. Solange dort kein Opernhaus sein wird, soll die Kirche geschlossen bleiben: Dieser Rigorismus, für den er auf den Kirchturm steigt, bringt ihm Gefängnis ein. Man darf doch nicht über einen Wunsch und eine Sehnsucht wahnsinnig werden. Die Kinder, die ihn lieben und mit ihm Caruso-Platten hören, befreien ihn aus der vergitterten Isolation: durch ihre Fürbitte.

Jedoch Träumer wie dieser Ire sind auch Realisten – durch Imagination. Er braucht Geld, er muß reich werden. Geld hat seine Freundin Molly, reich werden kann er als Ausbeuter eines Kautschukreviers, das bisher unzugänglich war, weil die Stromschnellen eines Flusses den ungehinderten Abtransport verwehrten. Man kann auch von hintenherum ins Paradies gelangen, Fitzcarraldo ist tricky, ein Phantast findet immer einen Weg, den andere für unmöglich halten, man muß eben nur Berge versetzen, besser: Schiffe über Berge.

Auf einer Landkarte hat er gesehen., daß sich zwei Flüsse fast berühren; seine tolle Kombination behält er für sich: Wer Opern liebt, mit Caruso und Verdi lebt, findet sich auch im Dschungel zurecht. Fitzcarraldo: der Eroberer, der Konquistador, kaltblütig. Mit Schiff und zusammengewürfelter Mannschaft dringt er in die feindliche Welt vor.

Aguirre, der finstere Träumer von Eldorado, der Rebell gegen Kaiser und Gott, zieht den Dschungel in seinen Kopf, in seine Psyche, und daran geht er einsam zugrunde; Fitzcarraldo verliert seinen Kopf nicht, der voller Träume ist. Er hat, selbst als ihn die ängstliche Mannschaft verläßt, noch einen bedachtsamen Kapitän, einen muskelstarken Maschinisten und einen versoffenen Koch mit Einfällen zur Seite: ein Opernquartett, das mit Carusos Stimme – vom Grammophon, auf dem Deck des Dampfers abgespielt – gegen das bedrohliche Trommeln der versteckten Indianer operiert: Verdi (Herr Grün) gegen das undurchdringliche Grün des Urwalds, wie Papageno mit seinem Glockenspiel Monostatos (in der "Zauberflöte") bannt, so zersingt hier Caruso mit Verdi die Bedrohung der Kriegstrommeln.

Zwei Kulturen treffen aufeinander, Fremde berühren sich: Fitzcarraldo streckt den Indianern seine Hand entgegen, er erwartet festen Druck; er erhält: sanfte, streichelnde Berührung. Das irritiert ihn (leider; denn die Oper sollte ihn doch humanisiert haben für das und die anderen); aber auch er spricht von "den Nacktärschen", auch er – jetzt ganz Imperialist für seine Träume – will sich, den Mythos der Indianer "zunutze machen".

Der Mythos: Das Land, in dem sie leben, ist verflucht; eines Tages würden Weiße kommen in einem großen Gefährt, um den Fluch zu lösen. Zwar erkennen die Indianer, daß die Weißen keine Götter sind, aber das Schiff, das sie ehrfürchtig berühren, macht ihnen Eindruck. So sehr, daß sie zu Fitzcarraldos Erstaunen seinem Plan sofort zustimmen, das gewaltige eiserne Gefährt über einen steilen Berg von einem Fluß zum anderen zu hieven.

Der Träumer trifft auf andere Träumer, er weiß nicht, wie ihm geschieht, er versteht sie nicht: "Warum tun die das?" Dabei koinzidiert (in der wahnwitzigen physischen wie geistigen Anstrengung, die Trennungen der Natur, den mythischen Bann zu sprengen und durch menschliche Phantasie und gemeinsame Kraft zu überwinden) Fitzcarraldos subjektiver Mythos mit dem kollektiven der Indianer: Jeder meint des anderen Werkzeug zu sein. Der Herr und seine Knechte?

Aber "der Herr" täuscht sich: Sein Konquistadoren-Triumph, seine europäische Überlegenheit kommt zu Fall (wie Herzogs Helden immer fallen, sonst wären sie für ihn keine). Denn kaum ist das Schiff im anderen Fluß, wo es jenseits der unpassierbaren Stromschnellen den Transport des Kautschuks bewältigen soll, mit dessen Handel Fitzcarraldo reich zu werden hofft (um sein Opernhaus bauen zu können), da kappen die Indianer die Taue, die das Schiff ans Land binden. Die trunkenen Weißen merken nicht, daß sie mit ihrem Kautschuk-Transporter auf die höllischen Stromschnellen zutreiben, und als sie es bemerken, ist es zu spät. Sie müssen, auf Leben oder Tod, durch die Strudel hindurch: für die Indianer, um den Fluch zu brechen; für Fitzcarraldo aber ist es die Katastrophe seiner Träume vom Reichtum. Die Passage gelingt mit Glück, selbst Carusos Stimme begleitet die Turbulenzen durch des "Wassers Fluten" ("Zauberflöte").

Das Leben gerettet, ein Desaster: der Opernenthusiast und Träumer, der zum Kautschukbaron werden wollte, gründlich ernüchtert, ein Imaginist am Ende, ein tragischer Narr zuletzt? Nein: Werner Herzog, der doch früher so oft, ja immer, ins Pathos des endgültigen, tödlichen Scheiterns und in den Untergang verliebt war (das macht ja auch ein großes tragisches Gefühl, zugegeben, ein antikisches) – Herzog liebt seinen Fitzcarraldo so sehr, daß er ihn doch noch "siegen" läßt, und zum ersten Male in seinen Spielfilmen gewinnt da einer den Kampf gegen das Verhängnis und die Widerstände und die Schwere der Welt. Fitzcarraldo kann das Schiff verkaufen, mit dem Geld engagiert er eine Operntruppe, die bringt er aufs Schiff; beladen mit Kulissen, Orchester, Chor, Solisten, nähert es sich Iquitos. In Frack und mit der "teuersten Zigarre der Welt" steht der Mäzen auf dem Oberdeck. So kreuzt, mit der Musik von Bellinis "Puritanern", die "Molly Aida" auf dem Amazonas vor den begeisterten Bewohnern von Iquitos: Ich, Fitzcarraldo, bin stolz und glücklich, Euch die Oper gebracht zu haben: ist sie nicht herrlich?

"Aguirre": das war die tragische Katastrophe des europäischen Hochmuts, die Epopöe des Bösen, der einsam endet und von der gewaltigen Natur verschlungen wird. "Fitzcarraldo": das ist die Tragikomödie des Hochgemuten, der die Natur überwindet; des enthusiasmierten Dilettanten, der sich seinen Traum erfüllt, indem er dessen Utopie allen öffnet. Klaus Kinski brilliert in beiden Rollen: im "Aguirre" als ein wahnsinniger Richard III. des Amazonas-Dschungels; im "Fitzcarraldo" als ein entflammter Don Quichote "des Nutzlosen", als ein glühender Phantast der Kunst, als ein lächelnder Traumtänzer der Utopie der großen Gefühle. Denn die Wirklichkeit ist ihm nur die Karikatur der Opern.

Vom Andenabstieg bis zum kreiselnden Floß auf dem Amazonas war der "Aguirre" als ein sich immer tiefer in die Wahnverschmelzung von Held und Natur hineinschraubender Alptraum gestaltet: einander zuwachsende Identität von Innen und Außen, von Aguirre und Dschungel (und der Zuschauer am Schnittpunkt beider situiert). "Fitzcarraldo" besteht aber auf Differenz; der Traum des Helden ist die Oper im Dschungel, der Triumph der Musik über die Natur und nicht der Dschungel als Oper; er will die Wirklichkeit verändern, nicht sich von ihr verändern lassen.

Thomas Mauch ist der Kameramann in beiden Filmen. Hatten seine und Herzogs erste Blicke auf den Urwald und die Wasserstraßen im Quellgebiet des Amazonas diese Landschaftsbilder früher ins Imaginäre verwandelt und ins Halluzinatorische überführt, so bleibt der Darstellungsgestus des "Fitzcarraldo" immer dokumentarisch. Am eindeutigsten dort, wo die Fiktion der Filmidee mit ihrer faktischen Realisierung zusammenfällt: beim Transport des Schiffs über den Berg und bei der Fahrt durch die Stromschnellen.

Werner Schroeter, der für Herzog die Opernsequenz in Manaus inszeniert hat, hätte womöglich den Film aus der Träumerpsyche des Helden erzählt. Herzog zeigt ihn allein von außen, verfolgt ihn bei seinen Tätigkeiten. Carusos Gesang, die Quelle von Fitzcarraldos Wunschenergie, hören wir nur, wenn der Held aus der Platten Kraft schöpft, wenn er sie als Mittel benutzt, um vergeblich die Kautschukbarone und erfolgreich die Indianer für sich zu gewinnen.

Leider hat aber Herzog diese realistische Verwendung von Musik immer wieder durchbrochen, indem er zusätzliche Stimmungsmusik der "Popuhl Vuh" verwendet. Sie erweckt falsche Assoziationen zum "Aguirre"; ohnehin sind sowohl die bedrohliche Reise den Fluß hinauf wie auch die Überwindung der Stromschnellen engverwandte thematische Reprisen des früheren Films im späteren – nicht unbedingt zu dessen Vorteil. Haarsträubend schlecht, ja dilettantisch inszeniert sind fast alle hastig zusammengeklaubten Erzählstücke in der Exposition des Films, der erst an erzählerischer Dichte und ästhetischer Formulierungs- und Spannkraft gewinnt, wenn das Schiff tief in den Urwald eindringt. Vergleicht man dann auch noch Werner Herzogs ursprüngliches "Fitzcarraldo"-Drehbuch (soeben bei Hanser erschienen) mit dem Film, der erst nach drei langen Anläufen und unter höchst kritischen Umständen zustande kam, wird man gewahr, was da im Laufe der Zeit an Motiven, Figuren (z. B. Fitzcarraldos verrückter Sancho Pansa Wilbur) und phantasmagorischen Bildern verlorenging; da erscheint einem dann der vorliegende Film als Fragment, wenn nicht als Ruine, und in präziser Weise verhält er sich zur ursprünglichen Idee wie Fitzcarraldos Traum von Opernhaus in Iquitos zu seiner einmaligen Opernaufführung auf dem Schiff: Bruchstücke eines großen Vorhabens – sie sind alles, was der übermächtigen Realität abgetrotzt werden konnte.

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