Aktuelle Tendenzen im deutschen Film: Schlaglichter als work in progress

 

Quelle: Peripher, DIF, © R. Vorschneider
"Marseille" (2004)
 

In seiner berühmten "Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos" hat Jean-Luc Godard von der Montage als "dem Allerwichtigsten" gesprochen. Godard zielte damit nicht nur auf die Rolle der Montage beim Filmemachen ab, sondern bezog sich ebenso auf das Reden und Schreiben über Film, auf die Auseinandersetzung mit dem Kino: "Man muß immer zweimal sehen. Das ist es, was ich mit Montage meine, einfach etwas in Verbindung bringen. Da liegt die wahnsinnige Macht des Bildes und des Tons, der dazugehört, oder des Tons und des Bildes, das dazugehört. Alles das, seine Geologie, seine Geografie, umfaßt meiner Meinung nach die Filmgeschichte, und das bleibt unsichtbar. Das zeigt man besser nicht, heißt es."Das Kino ist ein Ort der Zusammenhänge, der Verbindungen zwischen einzelnen Bildern, zwischen Bildern und Tönen, zwischen Publikum und Leinwand und nicht zuletzt zwischen verschiedenen Filmen in Abgrenzung und Annäherung zueinander. "Vom europäischen Kino heute", hat Frieda Grafe 1995 einen dieser Zusammenhänge beschreiben, "hat man nichts gesehen, wenn man nicht seine amerikanische Vergangenheit mitbedenkt."

Vor diesem Hintergrund ist es ein waghalsiger Versuch, Entwicklungen im derzeitigen deutschen Kinofilm angemessen zu beschreiben: nicht nur, weil sich aktuell im deutschen Film so viel bewegt wie vielleicht seit zwanzig Jahren nicht, sondern auch, weil eine solche Beschreibung zunächst heißt, Zusammenhänge zu verkürzen. Aspekte der aktuellen Entwicklung zu beschreiben, bedeutet das Treffen einer Auswahl – einer Auswahl, die hier unter dem Titel "Aktuelle Tendenzen im deutschen Film" einzelne Schlaglichter wirft und sich sukzessive erweitern soll. Das Ziel ist eine bewegte, andauernde Bestandsaufnahme, die – um der Vielfalt möglicher Perspektiven entgegenzukommen – überwiegend von Gastautorinnen und -autoren entwickelt wird.

 

Preise und Anerkennung

Quelle: Timebandits, DIF, © Wüste Film, Foto: Kerstin Stelter
"Gegen die Wand" (2004)
 

 Als Auftakt dieser Auseinandersetzung mit aktuellen Tendenzen liegt es nah, auf das wohl augenfälligste Merkmal zu reagieren: auf den Erfolg. Bereits das Jahr 2003 gab reichlich Anlass für Optimismus. "Die deutsche Filmbranche hatte in diesem Jahr auf internationalem Parkett so viel zu feiern wie noch nie", meldete dpa und konnte sich dabei nicht nur auf den Oscar für Caroline Links "Nirgendwo in Afrika" beziehen. Zur internationalen Anerkennung 2003 gehörten ebenso Katja Riemanns Auszeichnung in Venedig als Beste Darstellerin für Ihre Rolle in "Rosenstraße", der Triumph für "Good Bye, Lenin!" beim Europäischen Filmpreis oder die Überraschung durch Dito Tsintsadzes Drama "Schussangst", der als erster deutscher Film in der 51-jährigen Geschichte des Internationalen Filmfestivals von San Sebastián als bester Beitrag ausgezeichnet wurde.

Diese Erfolgsgeschichte erfuhr 2004 mit Fatih Akins "Gegen die Wand" eine spektakuläre Fortsetzung. Mit Akins vierter Kinofilmregie wurde zum ersten Mal seit 18 Jahren ein deutscher Beitrag auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Es folgten der Deutsche Filmpreis und schließlich auch – in direkter Nachfolge von "Good Bye, Lenin!" – der Europäische Filmpreis. Bei der Verleihung in Barcelona im Dezember 2004 erhielt Akin zudem den Publikumspreis als Bester Regisseur, während Daniel Brühl für seine Darstellung in "Was nützt die Liebe in Gedanken" mit dem Publikumspreis als bester Schauspieler geehrt wurde.

Internationale Anerkennung fand auch die deutsch-österreichische Koproduktion "Die fetten Jahre sind vorbei" von Regisseur Hans Weingartner, mit der erstmals seit elf Jahren ein deutscher Film für den Wettbewerb von Cannes nominiert wurde. Ebenfalls eine Einladung nach Cannes erhielt Klaus Hüttmann, der seinen Kurzfilm "Der Schwimmer" im Wettbewerb präsentierte, und Angela Schanelec, deren Spielfilm "Marseille" in der Sektion "Un Certain Regard" gezeigt wurde.

Good bye, Jammertal

Quelle: Constantin, DIF, © herbX film / JAT Jürgen Olczyk
"(T)Raumschiff Surprise - Periode 1" (2004)
 

 Anders als im Vorjahr jedoch folgte diesen Auszeichnungen eine weitere Erfolgsmeldung. Hatten noch 2003 die Kinobetreiber weniger Grund zur Freude gehabt und einen dramatischen Besucherrückgang verbuchen müssen, sollte sich 2004 auch dies positiv wenden. Die Filmwirtschaft konnte bei den Besucherzahlen ein Plus von über zehn Prozent verbuchen. Johannes Klingsporn, Geschäftsführer des Verbandes der Filmverleiher, sprach von einem "der besten Jahre der letzten Jahrzehnte". Peter Dinges, der Vorstand der Filmförderungsanstalt (FFA), lobte "die Qualität des deutschen Films" und erklärte: "Was die wirtschaftliche Situation betrifft, darf die Flaute der vergangenen Jahre wohl als endgültig überwunden gelten."Tatsächlich fanden sich in den Top Ten der in Deutschland 2004 gestarteten Kinofilme zum Jahresende gleich drei hiesige Produktionen unter den erfolgreichsten fünf wieder. Mit über neun Millionen Besuchern landete Michael "Bully" Herbigs "(T)Raumschiff Surprise – Periode 1" auf Platz 1 und ließ damit sogar "Harry Potter und der Gefangene von Askaban" hinter sich, dem wiederum zwei deutsche Produktionen folgten. Das Komiker-Ensemble um Otto Waalkes fand als "7 Zwerge – Männer allein im Wald" über sechs Millionen Besucher, Oliver Hirschbiegels viel und kontrovers diskutierter Historienfilm "Der Untergang" kam auf über vier Millionen. Auch der Kinderfilm hatte Teil an den wachsenden Besucherzahlen – "Lauras Stern", "Bibi Blocksberg und das Geheimnis der blauen Eulen" sowie "Sams in Gefahr" sprangen jeweils über die Marke von einer Million Besucher. Good bye, Jammertal: Allein in den ersten neun Monaten des Jahres konnte die FFA schließlich 23,5 Millionen Besucher für deutsche Produktionen zählen – der sich daraus ergebende Marktanteil von fast 21 Prozent wurde als das beste Ergebnis für den deutschen Film seit Beginn der FFA-Datenerfassung gefeiert.

Ein Anfang mal fünf

Quelle: Constantin, DIF
"Der Untergang" (2004)
 

Angesichts dieser Zahlen und Preise fallen so vor allem fünf Bereiche auf, die für die jüngsten und aktuellen Erfolge des deutschen Kinofilms von Bedeutung sind und mit denen die Schlaglichter auf die aktuellen Tendenzen beginnen sollen:Unter dem Titel "Vom Bildschirm auf die Leinwand" wird Rainer Dick "die deutsche Filmkomödie zu Beginn des 21. Jahrhunderts" in den Blick nehmen. "Der neue deutsche Kinderfilm" ist das Thema, mit dem sich Katrin Hoffmann in ihrem "Versuch einer Bestandsaufnahme" auseinandersetzt. "Unter den Trümmern der Popkultur" sucht Christian Buß nach den Erscheinungsformen von "Jugend im deutschen Film". Ralf Schenk erinnert an "Go, Trabi, Go" und widmet sich der "DDR-Vergangenheit, Wende und Nachwende in deutschen Kinofilmen zwischen 1990 und 2005". Unter dem Titel "Keine Stille nach dem Schuss" beleuchtet ein redaktioneller und mit zahlreichen Materialien ergänzter Beitrag die Darstellungen des "Terrorismus im deutschen Film".