Ich sprach mit einem Mädchen

DDR 1975/1976 Kurz-Dokumentarfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
Frühjahr 1975. Marieluise Hübner, inzwischen 20 Jahre alt, bummelt an der Seite ihres Freundes erstmals durch die Hauptstadt der DDR. Die ersten Einstellungen des Kameramannes Hans-Eberhard Leupold zeigen die beiden Hand in Hand am Ende des Linden-Boulevards. Was eine absolute Seltenheit bei Defa-Produktionen ist: Wie selbstverständlich rückt das Brandenburger Tor ins Bild samt weitläufiger Absperrungen am Pariser Platz. Die „Antifaschistischer Schutzwall“ genannte Mauer ist sonst für Filmemacher tabu.

Marieluise, die dem „Kinder von Golzow“- Dokumentaristen Winfried Junge schon als aufgeweckte Fünftklässlerin aufgefallen war, verbringt die Wochenenden noch bei ihren Eltern Elli und Walter Hübner in Golzow, einem kleinen Ort im Oderbruch, wo sie auch die zehntklassige Oberschule absolviert hat. Der junge Mann an ihrer Seite heißt Georg und studiert an der Berliner Musikhochschule Hanns Eisler: Kapellmeister ist sein berufliches Ziel, Chorleiter könnte eine Alternative für ihn sein.

Marieluise wäre nach dem Schulabschluss gerne Krankenschwester geworden, aber dafür gab es nicht genug Lehrstellen. Beim Besuch des Flughafens Schönefeld gesteht sie Georg, dass sie sich zumindest für eine gewisse Zeit auch den Beruf als Stewardess vorstellen könnte: Kommunikation mit den Menschen reizt sie ebenso wie die Möglichkeit, etwas von der Welt zu sehen. Nun ist sie, nach zweijähriger Lehrzeit an der Fachschule des Halbleiterwerks Frankfurt/Oder, Chemielaborantin, nicht gerade ihr Traumberuf: zu monoton, zu wenig fordernd. Immerhin ist sie „Gewerkschaftsvertrauensmann“ ihrer Brigade (alle offiziellen Bezeichnungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik waren in der DDR stets männlich).

Am fünf Jahre älteren Georg schätzt sie, dass er sich mehr ernsthafte Gedanken über die Gesellschaft macht als über die schönen Dinge des Lebens. Dennoch geht auch er gerne tanzen, einmal setzt sich ihr früherer Klassenkamerad Jürgen an ihren Tisch in der Gaststätte – in Uniform. Die meisten der Jungs aus ihrem Golzower Jahrgang dienen jetzt bei der Nationalen Volksarmee, wie sich bei einem Klassentreffen in der Schulaula zeigt. Wo sie erneut auf Jürgen trifft, der mit Freundin Anita gekommen ist: zur Zusammenkunft vier Jahre nach Schulabschluss sind ausdrücklich auch die (Ehe-) Partner eingeladen.

Wenn Marieluise an den Wochenenden ihr kleines Durchgangszimmer im Lehrlingswohnheim mit ihrem Golzower Kinderzimmer tauscht, trifft sie ihre Klassenkameraden. Die zumeist verheiratet sind und schon eine eigene Familie haben wie ihre Freundin Elke. Oder Willi, der die Schule bereits in der achten Klasse verließ, um Schlosser und Traktorist bei der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) zu werden.

Marieluise will sich dagegen noch Zeit lassen mit Ehe und Kindern. Obwohl sie gern bei ihrer früheren Kollegin Ilona zu Gast ist, die nach der Geburt ihrer Tochter aus dem Drei-Schicht-Betrieb ausgestiegen ist, weil es in Frankfurt keinen Krippenplatz gab. Nun muss Gatte Wolfgang als Kraftfahrer allein fürs Familieneinkommen sorgen.

Immer wieder, zuletzt bei einer Schiffstour der Klassentreffen-Teilnehmer auf der Oder, positioniert sich Marieluise mit freimütigen Äußerungen zu politischen, gesellschaftlichen und privaten Themen. Und entpuppt sich dabei ganz als Tochter ihres Vaters, eines gläubigen evangelischen Christen, überzeugten Sozialdemokraten und einst selbstständigen Bauern, der sich nur schweren Herzens der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft beugte und nun wie seine – nur noch halbtags tätige – Gattin als Melker bei der LPG angestellt ist. „Warum sollte man nicht sagen, was man denkt?“: Marieluise tritt für das freie Wort und den geraden Weg ein und nimmt dafür Widerspruch – und Widerstände - in Kauf. Winfried Junge schlägt sich in seinem selbst geschriebenen und gesprochenen Kommentar auf ihre Seite – aus sozialistischer Sicht: Nichts bleibt, wie es ist, das Dasein ist einem ständigen Wandel ausgesetzt. Dies erkannt zu haben und daraus - wie Marieluise - für sich Konsequenzen zu ziehen, sei ganz im marxistischen Sinne dialektisch.

Uraufgeführt am 24. November 1975 auf der Int. Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche (heute DOK Leipzig) lief das halbstündige Porträt „Ich sprach mit einem Mädchen“ innerhalb der Langzeitdokumentation „Kinder von Golzow“ am 13. Februar 1976 als Vor- bzw. Beifilm zum Hauptprogramm in den Kinos der Bezirksfilmdirektionen an.

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Dreharbeiten

    • From April 1974: Golzow und Umgebung
Länge:
825 m, 30 min
Format:
35mm, 1:1,33
Bild/Ton:
s/w, Mono
Aufführung:

Aufführung (DD): 24.11.1975, Leipzig, IFF;
Kinostart (DD): 13.02.1976

Titel

  • Originaltitel (DD) Ich sprach mit einem Mädchen
  • Arbeitstitel (DD) Klassentreffen
  • Reihentitel (DE) Die Chronik der Kinder von Golzow

Fassungen

Original

Länge:
825 m, 30 min
Format:
35mm, 1:1,33
Bild/Ton:
s/w, Mono
Aufführung:

Aufführung (DD): 24.11.1975, Leipzig, IFF;
Kinostart (DD): 13.02.1976